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© dapd

Berlin: „Die SPD wird Federn lassen“

Bürgermeister Buschkowsky lobt, dass Integration durch Sarrazins Buch endlich diskutiert wird, und lehnt dessen Ausschluss ab

Seit drei Monaten ist das Buch „Deutschland schafft sich ab“ von Thilo Sarrazin auf dem Markt. Mehr als eine Million Exemplare wurden verkauft. Wie erklären Sie sich diesen Erfolg?

Er hat pointiert und nuanciert aufgeschrieben, was viele Menschen jeden Tag sehen oder erleben. Er spießt die Zuwanderung in die Sozialsysteme auf, die Bildungsferne und so manche kulturelle Eigenheit, die hierzulande ungewöhnlich ist. Früher war die Empörung fast noch größer. Als ich vor fünf, sechs Jahren von Parallelgesellschaften oder über den mangelnden Aufstiegs- und Bildungswillen bei einem Teil der Zuwanderer gesprochen habe, waren das Tabubrüche. Dafür bin ich symbolisch fast geköpft worden. Heute reden auch Politiker weit links von mir über diese Phänomene als gesellschaftliche Realität. Insofern beschreibt Thilo Sarrazin viele Dinge, die eigentlich bekannt sind. Dazu kommt, dass er niedere Instinkte instrumentalisiert. Er setzt in seinen Formulierungen immer wieder auf die Überfremdungsangst. Wo verschiedene Kulturen aufeinandertreffen, gibt es Überfremdungsangst, überall. Das Thema der Migration beherrscht den Alltag unserer Städte. Das ist nicht mehr zu leugnen und es sind auch die Fehlentwicklungen nicht zu leugnen, die aus den Fehlern der Vergangenheit resultieren.

Was ist von diesem Empörungstsunami, wie Sie es nennen, übrig geblieben?

Dass Sarrazin mit seinem Buch nichts praktisch Anfassbares für Neukölln oder einen anderen Ort bewirkt hat, ist klar. Was ihm zweifelsohne zuzurechnen ist, ist der Hype in der Integrationsdebatte. Über weite Strecken sah die etablierte Politik dabei schon recht alt aus. Und wenn man das in Verbindung sieht mit dem Buch von Kirsten Heisig „Das Ende der Geduld“, das es „nur“ auf 300 000 verkaufte Exemplare geschafft hat, dann ist da etwas in Bewegung geraten, was nicht mehr tot zu kriegen ist. Diese beiden Bücher haben mehr Bewusstsein geschaffen als die heiße Luft der vier Integrationsgipfel der Bundesregierung zusammen. In meinen Vorträgen spüre ich, dass die Menschen sehr viel mehr für dieses Thema sensibilisiert sind als noch vor einem Jahr. Ich kann heute durchaus sagen: Meine Damen und Herren und wenn es Ihnen noch so unangenehm ist, ich kann Ihnen die brutale Wahrheit nicht ersparen, dass es ohne die Integration der Zuwandererkinder ein Leben in Wohlstand in Deutschland in der Zukunft nicht mehr geben wird.

Wie sind die Reaktionen darauf?

Die Menschen schauen im ersten Moment ein bisschen komisch. Aber ich werde nicht ausgebuht. Die Leute beginnen es zu begreifen: Wenn die Zuwandererkinder mit steigender Tendenz inzwischen bei den unter Fünfjährigen einen Anteil von 35 Prozent stellen, dass es dann ohne sie schon rein mathematisch gar nicht mehr gehen kann. Deutschland muss sich dem Wettbewerb aller alternden Volkswirtschaften um die klugen Köpfe der Welt stellen. Im Moment wandern mehr Akademiker aus Deutschland ab als zuziehen. Und das bei 670 000 Geburten pro Jahr, wo wir eine Million benötigen. Aber solange der Bayerische Ministerpräsident erklärt, „wir brauchen keine Zuwanderung aus anderen Kulturkreisen, wir haben genug Arbeitskräfte, wir müssen sie nur motivieren und qualifizieren“ und solange er im Jahre 2010 noch den glorreichen Satz spricht, Deutschland ist kein Einwanderungsland, solange wird der Fortschritt wohl eine Schnecke bleiben.

Wie steht die SPD – Ihre Partei – zu der Problematik?

Momentan ist die Partei noch in der Situation, dass es nicht wenige gibt, die sich schlicht und ergreifend weigern, gesellschaftliche Realitäten in Deutschland zur Kenntnis zu nehmen. Diese Sozialromantiker sind einfach noch nicht da angekommen, wo man ankommen muss, wenn man eine praktische Kommunalpolitik machen will, die die Probleme vor Ort angeht. Ich merke das bei meinen Vorträgen quer durch die Bundesrepublik. Positionen, die auf dem Landesparteitag Berlin mit Buh-Rufen quittiert werden würden, erhalten in anderen Landesverbänden Beifall.

48 Prozent der SPD-Anhänger lehnen das Ausschlussverfahren gegen Thilo Sarrazin ab. Welche Auswirkungen hätte ein Ausschluss von Thilo Sarrazin für die SPD?

Die SPD wird, wenn sie Thilo Sarrazin ausschließt, Federn lassen. Das steht für mich fest. Ich weiß auch nicht, ob alle, die nach dem Ausschluss gerufen haben, heute damit immer noch so wahnsinnig glücklich sind. Ich glaube, dass da sehr viel Rache von gepeinigten Seelen im Spiel war. Thilo ist häufig nicht sehr zimperlich und rücksichtsvoll mit anderen Menschen umgegangen. Ich kann auch ein Lied davon singen. Vor wenigen Wochen war ich bei einer Veranstaltung der Comenius-Stiftung in Darmstadt. Teilnehmer waren mehrere hundert Geisteswissenschaftler. Ich bin lange nicht so bestürmt worden wie an diesem Tag, alles zu tun, was in meiner Macht steht, damit Thilo Sarrazin nicht aus der Partei ausgeschlossen wird. Da ging es nicht um Solidarität oder Übereinstimmung mit seinen inhaltlichen Thesen. Die Botschaft lautete vielmehr, eine freie Gesellschaft ist die Summe freier Menschen. Und die Freiheit des Einzelnen beginnt mit der Freiheit des Geistes. Man kann nicht den Verfasser von Mohammed-Karikaturen mit Staatsakten ehren, aber einen Mann, der seine Gedanken niederschreibt, aus einer Volkspartei eliminieren. Auch ich habe mit dem Ausschluss meine Probleme. Schon deshalb, weil die Haiders, die Wilders und die Fortuyns nicht vom Himmel fallen, sondern gemacht werden. Und zwar von der etablierten Politik. In weiten Teilen Europas haben die Rechtspopulisten derzeit enormen Zulauf. Das ist das Resultat davon, wenn die etablierte Politik sich Themen verweigert, die den Menschen unter den Nägeln brennen und die sie bewegen.

Der SPD-Kreisverband Charlottenburg-Wilmersdorf hat das Ausschlussverfahren in die Wege geleitet auch mit der Begründung, er argumentiere mit Genen und vererbter Intelligenz.

„Es ist eine Illusion zu glauben, dass man mit Schule Menschen oder soziale Schichten verändern kann“, so lautet eine Kernthese von Thilo Sarrazin, die ich schlichtweg für Unfug halte. Ganz, ganz viele Menschen in unserem Land sind Produkte von Schule und unserem Bildungssystem. Ich auch. Die Ethnisierung von Klugheit und Dummheit, das Berufen auf Wissenschaftler, deren Thesen seit Jahrzehnten widerlegt sind, ist wohl kein Ergebnis überquellender genetischer Intelligenz. Also als Genetiker ist Thilo Sarrazin eindeutig gescheitert, die Nummer ist schiefgegangen. Darüber kann man streiten, zanken und richtig Stress haben. Aber ich weigere mich, eine Unkultur zu akzeptieren, die sich anmaßt, von außen zu beurteilen, wer Sozialdemokrat ist und wer nicht. Es gibt auch andere Positionen innerhalb der SPD, die ich ganz schrecklich finde. So gibt es bei uns immer noch Anhänger der Diktatur des Proletariats und des Zentralkomitees als Avantgarde der Entrechteten. Trotzdem bestreite ich diesen Anhängern der Klassenkampfideologie von gestern nicht das Recht, Mitglied der SPD und Suchende nach der wahren Erkenntnis zu sein. Ich habe viele Diskussionen an der Basis der Partei hinter mir und werde häufig von den viel zitierten normalen Menschen angesprochen. Die Ansprache ist meist klar: Wenn Ihr Sarrazin rausschmeißt, seid Ihr für mich gestorben. Ich bestreite nicht, dass es auch die genau entgegengesetzte Meinung gibt. Es ist keine schöne Situation, in die wir da gebracht worden sind.

Das Interview führte Jana Demnitz

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