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Die Station meines Lebens: 4.38 Uhr in Moabit

Alt-Moabit Ecke Gotzkowskystraße, kurz vor Sonnenaufgang. Die einzig akzeptable Zeit, in Berlin mit dem Bus zu fahren.

Die Sonne ist noch lange nicht aufgegangen. 4.36 Uhr. An der Bushaltestelle sitzt schon die Frau, die dort jeden Morgen sitzt. Sie ist sehr klein, ihr Alter unmöglich einzuschätzen, irgendwas zwischen 30 und 50. Ihre braunen Haare hat sie zu einem tiefen Pferdeschwanz gebunden. Stetig tippt sie auf dem Handy herum. Einmal habe ich versucht, sie zu grüßen, weil ich dachte, das mache man vielleicht so unter Frühaufstehern. Aber keine Reaktion. Vielleicht gehöre ich noch nicht lang genug dazu. Alt-Moabit/Gotzkowskystraße, Bezirk Mitte – und doch so weit von dem entfernt, was man sich gemeinhin unter Berlin-Mitte vorstellt: hippe Bars, hippe Leute, Helikopter-Eltern. Hier, an meiner Haltestelle, ist nichts hipp.

Hier gibt es Kick und Döner und die Mütter schieben ihre Kinderwagen mit Kippe im Mundwinkel durch die Gegend. Aber um diese Zeit noch nicht, jetzt ist noch alles tot. Oder vielmehr: friedlich. Bald wird einem hier der Verkehr das Atmen schwer machen, muss man fünf Minuten auf eine grüne Fußgängerampel warten. 4.37 Uhr, noch ist kaum ein Auto zu sehen, noch scheint die ganze Stadt zu schlafen. Die einzig akzeptable Zeit, in Berlin mit dem Bus zu fahren.

Dabei habe ich das alles nie gewollt. Mein ganzes Leben habe ich Busfahren als etwas Kleinstädtisches, ja Dörfliches verachtet. Bin lieber 30 Minuten durch den Regen gelaufen, als mich auf willkürliche Fahrtzeiten, unfreundliche Fahrer und halsbrecherische Verkehrsmanöver einzulassen. Vier Jahre habe ich so in Berlin gelebt. Und dann war da auf einmal dieser Mann, der in Moabit lebt, fernab von vernünftigen Verkehrsmitteln, und ich musste mich entscheiden: U-Bahn-Fahren oder Liebe? 4.38 Uhr: Gleich kommt der Bus.

Station: Alt-Moabit/ Gotzkowskystraße
Linien: Bus 101, 106, 245, N26
Nachbarhaltestelle: Zinzendorfstraße
Fahrzeit bis Alexanderplatz: 35 Minuten ohne Umsteigen

Obwohl ich das frühe Aufstehen gleichermaßen hasse wie das Busfahren, freue ich mich mittlerweile auf diese Fahrt. Jedes Mal setze ich mich auf den gleichen Platz, oben, ganz vorne rechts. Hier fühlt es sich an, als flöge man über die leeren Straßen Berlins, durch die grünen Baumkronen hindurch, während es am Horizont immer heller wird. Andere machen morgens Yoga, mir hilft die Busfahrt, das Trauma des Weckerklingelns zu verarbeiten.

Zugleich hat diese Fahrt auch etwas Trauriges an sich, führt mir die Vergänglichkeit vor Augen. Es wird nicht ewig so sein. Oft stelle ich mir vor, wie ich einmal auf diese Zeit zurückblicken werde, auf die Zeit, als ich um fünf Uhr morgens anfangen musste zu arbeiten, die Zeit, als ich oft in Moabit schlief. Dann sehe ich dieses Bild. Eine Bushaltestelle im Futur II: Es wird schön gewesen sein.

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