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Berlin: Die Stimme des Wildschweins

Marie hat mitgehört. Im Einbaum versteckt. Nun kommt sie raus: Die sechste Geschichte – von einer, die alles wissen will

Eine Weile lang war es sehr still, nachdem Günter Rosario seine Liebesabenteuer unter dem Männerhaus geschildert hatte. Jürgen Schulze bemaß mit den Augen die Länge der Stelen, auf denen das Männerhaus ruhte, und den knappen Raum darunter; offenkundig dachte er gerade intensiv an seine Kleene aus Thailand. Ida Meier verspürte wachsenden Hunger. Es war 22 Uhr. Seit vier Stunden waren sie hier gefangen. Irgendwann, dachte sie, würde einer die Nerven verlieren. Rumbrüllen. Eine UliFigur umwerfen. Auf die anderen losgehen?

Ein plötzliches Geräusch von den Booten her ließ sie zusammenfahren. Kyra, die Rumänin, schrie laut auf: Sie sah als erste, wie eine Gestalt aus einem der Einbäume herauskletterte. Es war ein etwa 16-jähriges, sehr schlankes Mädchen. Langsam kam es auf die Gruppe zu. Sie heiße Marie, sagte sie. Sie habe die letzten Geschichten mit angehört. Und nun wolle sie ihre eigene erzählen.D.N.

„Letzten Monat war ich mit meiner Klasse hier und habe mir alles genau angesehen. Plötzlich redete jemand, ich drehte mich um, niemand war da. Es war merkwürdig: Ich stand allein auf dem Gang und hatte das komische Gefühl, jemand wäre neben mir. Dann hörte ich wieder diese tiefe raue Stimme – kann doch nicht sein, dachte ich, dass aus der Vitrine jemand spricht. Jetzt erst sah ich das Wildschwein da drin. Und wer hatte gesprochen? Da bewegte das Wildschwein sein Ohr. Wie lebendig, dabei war es hohl. In dem Moment tippte mir meine Freundin auf die Schulter. „Bist du schwerhörig? Wir gehen.“

Nachmittags zu Hause hörte ich die Stimme wieder, ich dachte, ich spinne. Es klang, als sei die Stimme unter Wasser und als ob sie in Wellen käme. So wie wenn ich im alten Radio den Sender nicht reinkriege: lauter und leiser und zwischendurch wieder von Rauschen verschluckt. Ich war froh, als meine Schwester Ulrike von der Arbeit kam. Es gibt ja Leute, die Stimmen hören, so wie die Mutter meiner Freundin, die Medikamente schlucken muss, damit in ihrem Kopf Ruhe ist. Ich erzählte meiner Schwester von dem Besuch im Museum. Dann fragte ich ganz allgemein: Kann es sein, dass man aus der Luft Stimmen hört, auch wenn niemand zu sehen ist? Das interessierte Ulrike natürlich. Sie meint ja, dass überall Geister um uns herumschwirren, Seelen Verstorbener und dass es keine Zufälle gibt. Sie sagte, es könnte sein, dass man sie mal reden hört.

„Heute habe ich eine Stimme gehört. Erst im Museum und dann auch hier.“

Ulrike hoffte gleich, dass der Geist noch einmal zu mir sprechen würde. Sie sagte: „Mach dir mal keine Sorgen. Jemand möchte dir etwas sagen und das ist kein Wunder, denn du bist jetzt 16. In dem Jahr sind für dich die Tore zwischen der unsichtbaren und der sichtbaren Welt und zwischen Himmel und Erde geöffnet. Also versuch zu verstehen, was man dir sagen möchte.“

Meine Schwester redet nur so mit mir, wenn Mutter nicht da ist. Die würde sonst sagen: „Red der Kleinen nichts ein.“ Ulrike würde wie immer antworten: „Von wem habe ich es denn gelernt?“ Und ich würde wie immer nicht verstehen, worum es eigentlich ging, aber nicht fragen, weil ich ohnehin nie klare Antworten bekomme.

Ulrike ist schon 32 und wohnt noch zu Hause. Aber bei uns ist es sowieso merkwürdig. Wir kennen unseren Vater nicht und Mutter weigert sich, über ihn zu sprechen. Nicht einmal seinen Namen wissen wir. Mutter macht aus allem ein Geheimnis. Mich nervt das, aber an ihr kann man sich die Zähne ausbeißen, sie schweigt. Ich möchte mit 18 ausziehen.

In der Nacht war ich plötzlich hellwach. Die Stimme. „Niemand ist, was du glaubst.“ Es war so dunkel im Zimmer, warum hatte ich bloß die Gardinen zugezogen? „Es gibt Geheimnisse...“ Dann war die Stimme weg, ich kroch unter die Bettdecke. Jetzt wusste ich auch, was das Rauschen war. Es waren viele Stimmen, es mussten hunderte sein, die da gleichzeitig redeten. Ich hatte Angst. Ich streckte vorsichtig die Hand aus, knipste das Licht an, schlich zu meiner Schwester rüber und legte mich zu ihr ins Bett, so wie früher als ich klein war. „Was ist?“ murmelte sie.

„Ich habe wieder die Stimme gehört. Kann ich bei dir schlafen?“

Ulrike rutschte ein Stück und wollte wissen, ob ich etwas verstanden hatte. Ich sagte: „Irgendwas mit Geheimnis. Aber ganz deutlich habe ich gehört: Niemand ist, was du glaubst.“

Danach merkte ich, dass Ulrike nicht mehr schlafen konnte. Am nächsten Morgen stand Mutter in der Tür, schon angezogen, wie immer in schwarz. Sie ist so dick, dass man nicht an ihr vorbeikommt. Ob wir den Wecker überhört hätten und weshalb ich hier sei. Ich erzählte ihr, was die Stimme gesagt hatte. Dabei bekam ich wieder das komische Gefühl, die beiden würden mir etwas verheimlichen. Ich sagte: „Vielleicht kann ich mich mit dem Geist unterhalten. Oder ihn testen und fragen, wer meine Eltern und Geschwister sind. Um herauszufinden, ob er wirklich mich meint.“ Dann dachte ich, vielleicht könnte ich den Namen meines Vaters erfahren.

Meine Mutter sagte bloß: „Lass den Quatsch. Sieh zu, dass du in die Schule kommst.“

Ich war froh, aus der Wohnung rauszukommen, ging nach der Schule zu meiner Freundin und erst am Abend nach Hause. Da war vielleicht was los: In Ulrikes Zimmer rauchte eine Duftkerze, sie war gerade dabei, alle Zimmer mit Zederngras auszuräuchern. Reinigen nannte sie das. Mir war das alles unheimlich. Ich ließ überall Licht brennen und alle Türen offen, weil ich mich sonst fürchtete, ohne zu wissen wovor. Mutter saß am Küchentisch und bastelte – gruselige Fratzen mit aufgerissenen Augen, gefletschten Zähnen, wirren Haaren. „Ich muss mich mal wieder kreativ betätigen“, sagte sie. Die Gesichter hängte sie überall in der Wohnung auf. In meinem Zimmer wollte ich das nicht, da wurde sie sauer, aber ich erlaubte es trotzdem nicht.

Ich hab mich gefragt, wer bei uns wohl als Erste verrückt wird. Ich dachte, wenn Ulrike und Mutter die Stimme vertreiben wollen, wie ich vermutete, dann will ich jetzt aber genau wissen, was sie zu sagen hat. Ich setzte mich in mein Zimmer und wartete. Ewig lange. Und mit einem Mal war die Stimme da. „Ich suche und suche und finde, was ich nicht suche. Und niemand ist, was du glaubst. Aber ich bin das Wildschwein.“ Mehr sagte sie leider nicht. Und so ging es eine ganze Woche, immer die gleichen Sätze. Als ich an einem Nachmittag allein zu Hause war, hörte ich die Stimme ganz nah. Unheimlich, aber ich blieb still sitzen. Und da hörte ich dann die ganze Geschichte.

Vor langer Zeit hatte sich das Wildschwein einen Schlafplatz auf einem Hügel gesucht, dort sein Fell und alle seine Knochen ganz ordentlich einen neben den anderen abgelegt, jeden einzelnen, große, kleine und winzige. Dann schlief es ein und als es am nächsten Morgen aufwachte und die Knochen und das Fell wieder aufnahm, fehlte ein kleiner Knochen. Jemand musste ihn in der Nacht genommen haben. Seitdem irrt das Wildschwein durch den Wald und die Welt und sucht seinen Knochen.

Als Ulrike und Mutter nach Hause kamen, hatte ich einen Kloß im Hals, aber ich erzählte ihnen trotzdem, was das Wildschwein noch gesagt hatte: „Die Schwester ist nicht die Schwester. Die Mutter nicht die Mutter. Die Tochter nicht die Tochter. Ich irre durch die Welt und finde vieles, nur meinen Knochen nicht. Die Mutter ist die Großmutter, die Schwester die Mutter. Und alle wissen es bis auf die Kleine. Alles, alles habe ich herausgewühlt, alles finde ich, nur meinen Knochen nicht.“

Ob sie mir das erklären könnten, fragte ich. Da fing Ulrike an zu weinen und Mutter stopfte alle Fratzen in den Müll.

Ich fragte, ob es stimmt, dass sie meine Großmutter und Ulrike meine Mutter sei. Beide nickten bloß. Weil sie dann wieder schwiegen, schrie ich, sie sollten endlich richtig mit mir reden.

„Du musst verstehen...“, sagte Mutter dann. „Ich war 16, als Ulrike auf die Welt kam. Deshalb musste ich die Schule ohne Abschluss verlassen. Alle Leute zeigten mit dem Finger auf mich und gingen mir aus dem Weg. Und obwohl ich auf Ulrike aufpasste, wurde auch sie mit 16 schwanger. Ich wollte ihr das Unglück ersparen und sagte, das wird mein Kind und du gehst weiter zur Schule. Wir verheimlichten ihre Schwangerschaft, waren lange verreist und als du geboren warst, habe ich dich als mein Kind angemeldet.“

Ich konnte nichts sagen, ewig nicht. Wollte dann wissen, wer mein Vater sei. Als sie darauf nicht antworten wollten, sprang ich auf, knallte die Wohnungstür zu und lief weg. Lief, bis ich vor dem Museum stand. Das Wildschwein hatte mir die Wahrheit gesagt – zu Hause gibt es nur Lügen. Ich dachte, jetzt bleibe ich erst mal hier. War gar nicht ungemütlich im Boot. Aber morgen gehe ich wieder nach Hause. Ich will alles wissen.“

Diese Geschichte wird heute um 10Uhr45 im Kulturradio des rbb („Leseprobe“) gesendet. Die nächste Geschichte von Katja Lange-Müller wird am Dienstag veröffentlicht und gesendet.

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