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Berlin: Die ungewollten Kinder

Eine Mutter setzte ihr Baby aus, weil sie nicht weiterwusste – kein Einzelfall

Von Sandra Dassler

Heimlich hatte die Frau aus Berlin im Sommer 2003 ihr Kind zur Welt gebracht – während eines Aufenthaltes bei Verwandten auf der Nordseeinsel Wangerooge. Ein paar Tage lang versteckte sie das Mädchen, dann wickelte sie es in ein blaues Frotteetuch und einen Kopfkissenbezug und legte es bei Sonnenaufgang in einen Strandkorb nahe der Promenade. Dort fand es ein Rentner namens Paul, der den Strandkorb gemietet hatte. Nach ihm wurde das Findelkind Pauline genannt.

Pauline hatte viel Flüssigkeit verloren; noch im Hubschrauber, der sie in die Kinderklinik Wilhelmshaven brachte, unternahmen die Helfer Rettungsversuche. Im Krankenhaus war das Mädchen bald außer Lebensgefahr. Nach Paulines Mutter suchte die Friesländer Polizei 16 Monate lang. Vorgestern gab sie, wie berichtet, bekannt, dass eine heute 33-jährige Berlinerin mittels DNA-Analyse als Täterin überführt wurde. Chefermittlerin Renate Klamandt war durch einen anonymen Hinweis in einem Berliner Sozialamt auf die allein erziehende und von Sozialhilfe lebende Mutter aufmerksam geworden.

„Die Frau wollte, dass das Kind schnell gefunden wird“, sagt die Kriminalistin. Nach den Ermittlungen deute nichts auf eine Tötungsabsicht hin, aber auch Kindesaussetzung sei ein schwerwiegender Straftatbestand, der mit bis zu zehn Jahren Haft geahndet werden könne. In den Vernehmungen hat die Mutter erklärt, sie habe nicht gewusst, wie sie neben ihren heute drei und neun Jahre alten Söhnen noch ein weiteres Kind aufziehen solle.

Solche Erklärungen hört Gabriele Stangl immer wieder. Die Seelsorgerin kümmert sich seit Jahren im Krankenhaus Waldfriede um Mädchen und Frauen, die schwanger sind, aber das Kind nicht behalten wollen. Das Zehlendorfer Krankenhaus war die erste Einrichtung in Berlin, in der diese Frauen Kinder anonym zur Welt bringen können. „Wir haben auch eine Babyklappe“, sagt Gabriele Stangl. Doch die Mitarbeiterinnen wollen den Frauen nicht einfach das ungewollte Kind abnehmen, sondern ihnen auch bei den körperlichen Anstrengungen der Geburt beistehen. Und ihnen bei der Verarbeitung der seelischen Qualen helfen, die eine Entscheidung gegen das Baby für die meisten mit sich bringt.

Viele Mütter, die im „Waldfriede“ anonym entbinden, behalten ihre Kinder dann doch – vor allem, weil ihnen weitere Hilfe vermittelt wird. Das Schwierige sei, meint Gabriele Stangl, Frauen in solchen Notsituationen überhaupt zu erreichen – auch um Panikreaktionen zu verhindern. Nach Auskunft des Kinderhilfswerks „terre des hommes“ wurden im vergangenen Jahr deutschlandweit 42 ausgesetzte Säuglinge gefunden. Nur zwölf überlebten. Pauline, die inzwischen einen „richtigen“ Namen erhielt und in einer Pflegefamilie in Friesland lebt, gehört dazu.

„Babywiege“ Waldfriede, Tel. 81810335. 24-Stunden-Notruf: 0800 4560789

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