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Armenviertel. Viele Menschen im Viertel Heerstraße Nord leben von Sozialleistungen.

© Kai-Uwe Heinrich

Die Urzelle der Berliner Quartiersarbeit: Die Notbremser von der Heerstraße

Arbeitslosigkeit, Armut, Elend überall: Das Viertel um die Staakener Heerstraße gilt als gesellschaftlich abgehängt. Trotzdem geht die Kriminalität seit Jahren zurück. Wie kann das sein?

Zwei ungewöhnliche Gefährten stehen in schwindelerregender Höhe auf dem frei zugänglichen Umlauf eines Hochhauses und schauen über die niedrige Balustrade auf ihr Zuhause. Zu sehen ist eines der Armenviertel Berlins: der Staakener Kiez Heerstraße Nord mit seinen Wohntürmen und anderen vielgeschossigen Betonklötzen.

Der Mann und die Frau kennen sich schon viele Jahre – sie sind Teil eines bemerkenswerten Netzwerkes. Und von hier, dem 17. Stock, die Fassade hinabblickend kann man sie besonders gut betrachten: die Urzelle der sozialen Quartiersarbeit in Berlin, das Gemeinwesenzentrum Heerstraße Nord. 40 Jahre alt, Trutzburg gegen Verwahrlosung, Einsamkeit und Kriminalität.

Mehr als 60 Prozent der Kinder unter 15 Jahren im Viertel leben in Armut, 26 Prozent der Erwachsenen sind nicht arbeitssuchend gemeldete Sozialleistungsempfänger, etwa Asylbewerber, Süchtige, Kranke, Menschen ohne Bildungsabschluss. Die Arbeitslosenquote der Übrigen ist durchweg deutlich zweistellig.

Mohamed Zaidi und Brigitte Stenner sind neben anderen Sozialarbeitern aus mehr als 40 Einrichtungen und Projekten Lotsen im oft trüben Leben vieler Menschen hier.

Blick von ganz oben: die Siedlung Heerstraße Nord, davor die Einfamilienhäuser.
Blick von ganz oben: die Siedlung Heerstraße Nord, davor die Einfamilienhäuser.

© Kai-Uwe Heinrich

"Alle sind arm und trauen sich irgendwie wenig zu"

Er ist 29 Jahre alt, sein großer, gemütlicher Körper schwankt beim Laufen hin und her wie eine Boje bei leichter Brise; sie ist 75 Jahre alt, eine zarte Erscheinung, durch die schwarze Spange im weißen Haar wirkt sie mädchenhaft. Beide sind Spandauer von Geburt, beide wohnen schon lange in dieser Hochhaussiedlung am westlichsten Rande Berlins; sie kennen sich, seitdem der kleine Mo in den Kinderklub des Zentrums kam, in dem seine tunesische Mutter putzte und Brigitte Stenner im Vorstand saß.

Oben auf dem Ausguck, mit dem Blick zum weit entfernten Funkturm, fragt Zaidi Stenner: „Was hast du hier gelernt?“

Stenner: „Dass man was miteinander erreichen kann.“

Er: „Wenn man sich anstrengt.“

Sie: „Die Weltprobleme können wir nicht lösen. Aber hier bei uns kommen doch alle noch miteinander aus.“

Stenner schweigt, dann fragt sie sich: „Aber wie lange noch?“

Er: „Alle meine Freunde haben jetzt Kinder und wohnen immer noch hier. Und alle sind arm und trauen sich irgendwie wenig zu.“

Berlins erste mobile Polizeiwache wurde vor dem Einkaufszentrum in Staaken eröffnet.
Berlins erste mobile Polizeiwache wurde vor dem Einkaufszentrum in Staaken eröffnet.

© André Görke

Hochhaussiedlungen wie hier, im Märkischen Viertel oder in der Gropiusstadt waren einst Zeichen für Modernität und Aufbruch. Die Stadtplaner hatten sprichwörtlich hohe Ziele: bezahlbare Mieten, demokratisches Wohnen, soziales Miteinander. Doch weil nun mal die Menschen mit ihren Problemen nicht automatisch zueinanderfinden, schon gar nicht in einer Welt aus Beton, sind die schönen Vorstellungen der Stadtplaner oft Luftschlösser. Die Konstante an diesem Ort ist soziale Unsicherheit; mögen sich die Zeiten auch ändern, die Probleme bleiben gleich. Das Vorurteil lautet: Wo Armut herrscht und eine solche soziale Mischung, muss auch die Kriminalität allgegenwärtig sein. Doch vom Treppenhausbalkon betrachtet, scheint diese Horrorvision so weit entfernt wie die Schleierwolken vom Hochhausdach. Stattdessen guckt man hinab auf eine friedlich wirkende Kulisse, auf sehr viel Grün zwischen dem Beton, auf barrierefreie Zugänge, Spielplätze hinter jeder Hausecke, Basketballkörbe, Fußballkäfige.

Hier greifen Hände ineinander, um die Menschen aufzufangen

Unten, im „Hasenbau“, wie das Gemeinwesenzentrum wegen seiner vielen baulichen Verwinkelungen heißt, steht die Glocke der evangelischen Kirche demonstrativ vor der Tür und soll signalisieren, dass dieses Haus für alle da ist. Das heißt hier in Staaken für knapp 20.000 Einwohner, die auf 16 Hektar wohnen. Eine Frau hastet mit Malstiften für ein Kinderfest aus der Tür, ein Mann sucht schimpfend nach dem Halal-Grill, weil in zwei Stunden in der Kaserne um die Ecke das Zuckerfest mit Anwohnern und Geflüchteten gefeiert wird. Der Pfarrer steigt gerade auf sein Fahrrad und muss los zum Seniorensingen.

Von hier aus haben die sozialen Träger ein Netz aus menschlichem Zuspruch und Daseinsvorsorge für die Anwohner gewoben. Ausgangspunkt war die Idee, dass kirchliche und weltliche Sozialarbeit von einem Ort aus gesteuert werden sollen. Hier greifen Hände ineinander, um die Menschen in einem Viertel, das permanent am sozialen Abgrund hängt, aufzufangen.

Gemeinsame Probleme, gemeinsame Lösungen

Gemeinsam für alle. Brigitte Stenner, Pastor Cord Hasselblatt und Mohamed Zaidi arbeiten Hand in Hand, um das soziale Netz in ihrem Viertel immer enger zu weben.
Gemeinsam für alle. Brigitte Stenner, Pastor Cord Hasselblatt und Mohamed Zaidi arbeiten Hand in Hand, um das soziale Netz in ihrem Viertel immer enger zu weben.

© Kai-Uwe Heinrich

Stadtteilzentren gibt es in vielen Ortsteilen der Hauptstadt. Und seit Beginn der 2000er Jahre haben besonders problembelastete Kieze auch ein eigenes Quartiersmanagement. Das Staakener arbeitet natürlich auch vom Hasenbau aus.

Nirgendwo geht die Tradition dieser vernetzten Arbeit so weit zurück wie hier. Es war die evangelische Kirche, die Ende der 60er Jahre begann, sie aufzubauen. Als noch kein einziges Haus der späteren Rudolf-Wissell-Siedlung stand, beschloss sie, Gebäude zu kaufen und ein Zentrum zu schaffen für Kinder- und Jugendarbeit, für Altenangebote, soziale Beratung. Man ahnte damals: Wir müssen zu den Menschen gehen, sie kommen nicht freiwillig zu uns. Es kamen weltliche Träger, Sozialarbeiter, Architekten und Ärzte dazu, die selbstverwaltet diese Zentrale schufen: Man wollte die Einwohner für Selbstorganisation begeistern, ihnen Mut machen, selbstbestimmte Lösungen zu finden.

Damals, erinnert sich Brigitte Stenner, habe es noch eine Mischung aus Mittelschicht und Unterschicht gegeben. Weil die Wohnungen groß und günstig waren, kamen auch die, die Arbeit und genug zum Leben hatten. Wie sie. 1978 wurde das Zentrum eingeweiht. Stenner war kurz zuvor mit ihrem Mann und ihrem Sohn in die Siedlung am Pillnitzer Weg gezogen, wo die Häuser nur zehn Geschosse haben, aber „sonst nichts war“: kein Grün, kein Supermarkt, keine Post und schon gar keine Kita.

Sie fragte nach einer Kinderbetreuung. Gab es nicht

Aber das Gemeindehaus der Kirche und der Gemeinwesenverein direkt neben ihrer Haustür waren schon fertig. Stenner fragte nach einer Kinderbetreuung. Gab es nicht. Trotzdem kam sie nicht ohne Hoffnung wieder heraus, sondern mit dem ermunternd gemeinten Vorschlag: Organisiert selbst eine! Dazu ein Versprechen: Wir helfen euch! Es ist die wichtigste Erfahrung, die sie macht und die sie seit 40 Jahren versucht, in verschiedenen Positionen weiterzugeben: Hilfe zur Selbsthilfe. Mut zum Aufbruch. Selbstbewusstsein durch Anerkennung.

Sie haben damals alles selbst in die Hand genommen: Sie entdeckten mit anderen Eltern eine alte Baubaracke und machten daraus eine Kita, ohne auf die vielen Bedenken und Einwände offizieller Stellen zu hören. Später zimmerten sie mit Hilfe des Gemeinwesenzentrums einen Abenteuerspielplatz. Und als über die Jahre mehrere Kinder auf der Straße angefahren und sogar totgefahren wurden, setzten sie sich für eine Tempo-30-Zone ein. „Statistisch reichten diese Unfallzahlen dafür nicht, hat man uns gesagt.“ Doch es wohnte auch ein Malermeister im Haus, der pinselte kurzerhand eine riesige weiße 30 auf die Straße. „Das hat auch funktioniert.“

Im Alter von Ende 30 traute sich Stenner, die eine Ausbildung zur französischen Wirtschaftsübersetzerin gemacht hatte, aber Hausfrau geblieben war, ein Studium der Sozialarbeit und Sozialpädagogik zu beginnen. Das Gemeinwesenzentrum ermunterte sie. Später organisierte sie dort die Gremienarbeit, baute Brücken, brachte Menschen zueinander, hauchte der Stadtteilkonferenz neues Leben ein, deren vereinende Kraft erschöpft schien, einfach weil Menschen, die Sozialarbeit aus Überzeugung machen, keine Maschinen sind. Sie zweifeln, streiten, konkurrieren. Ein soziales Netzwerk ist nie nur harmonisch, sondern stets fragil.

"Wir hatten wahnsinnige Freude daran, eine Wirkung zu haben"

So war das in den 90er Jahren. Stenner und Kollegen telefonierten alle Beteiligten ab, führten unzählige Gespräche, machten denen Mut, die den Anwohnern helfen sollten, aber auch nicht immer die Energie dafür fanden. Stenner war damals wie heute von einem überzeugt: Ohne Vernetzung, ohne Einigkeit, könne man nichts für die Menschen erreichen.

Später handelte sie so, wie sie es zu Beginn gelernt hatte: autonom, mutig, der umständlichen Bürokratie immer einen Schritt voraus. Als eine Wohnungsbaugesellschaft fragte, ob das Zentrum einen leeren Supermarkt nutzen wolle, waren alle elektrisiert und sagten zu. Gemeinsam mit türkischen und arabischen Frauen bauten sie das „Gemischte Kulturzentrum“ auf, in denen auch Sinti und Roma betreut werden und das die Kulturen im Viertel zusammenbringen soll. Die Einweihung, erinnert sich Stenner unter dem Dach des Hochhauses, habe „sehr improvisiert“ stattgefunden. Es hatte keine offizielle Bauabnahme gegeben.

Mohamed Zaidi lacht über die Geschichte: „Ihr habt nie aufgegeben.“

Sie: „Wir hatten wahnsinnige Freude daran, eine Wirkung zu haben mit unserer Arbeit.“

Heute arbeitet Brigitte Stenner noch ehrenamtlich für die Stadtteilzeitung. Einmal hat sie auch Zaidi interviewt, das Gespräch beginnt mit dem Satz: „Sie hatten nicht den besten Ruf ...“

Er: „Ich war selber kleinkriminell, hab mir aber irgendwann gesagt, dass es so nicht weitergeht.“

Die Erfahrungen, die Stenner und Zaidi gesammelt haben, machen sie zu idealen Vertrauenspersonen in diesem Kiez.

Arm, durchmischt - aber nicht kriminell

Heimat aus Beton. Die Menschen sollen sich geborgen fühlen - das ist der Wunsch der kirchlichen und weltlichen Sozialarbeiter.
Heimat aus Beton. Die Menschen sollen sich geborgen fühlen - das ist der Wunsch der kirchlichen und weltlichen Sozialarbeiter.

© Kai-Uwe Heinrich

Die verschiedenen sozialen Träger im Zentrum sind wiederum eng verbunden mit den vielen Ämtern im Bezirk, den Schulen, Kitas, der Polizei, den Staatsanwälten und den Ärzten. In der nun wieder lebendigen Stadtteilkonferenz sitzen alle zusammen, diskutieren und verzweifeln zunehmend an der Bürokratie: Für das Stadtteilzentrum etwa müssen seit 40 Jahren jedes Jahr die Mittel neu beantragt werden. Erst letztens hat man sich im Quartiersrat gegenseitig versichert, wie motiviert man dennoch sei. Aber dann sprach einer aus, was viele dachten: „Der Teamgeist muss wiederbelebt werden.“ Man müsse wieder bekannter werden, lauter, mutiger. Aber die Zeiten ändern sich auch, werden immer härter. Das spüren Zaidi und Stenner: „Die Menschen sind immer weniger in der Lage, ihren normalen Alltag zu bewältigen.“

Was man von oben aus dem 17. Stock nicht sehen kann, ist unten allgegenwärtig: die Armut. Der kleine Markt vor dem Staaken-Center, dem hiesigen Einkaufszentrum, besteht aus billigen Klamotten und Krimskrams-Kisten mit Ein-Euro-Utensilien. Am Imbiss wird schon morgens viel Bier getrunken, das einzige Café am Platze ist mit seinen Preisen sehr viel niedriger als woanders in der Stadt, die Rollstuhlfahrer und andere Beeinträchtigte trinken ihren Alkohol um die Ecke und im Staaken-Center selbst ist kaum etwas los. Schlangen gibt’s hier immer nur vor dem Geldautomaten, und zwar am Monatsanfang.

In den sozialen Rankings findet sich der Kiez immer weit hinten

Nirgendwo wie hier leben so viele verschiedene Kulturen auf engstem Raum zusammen: Polen, Weißrussen, Bulgaren, Syrer, Afghanen, Araber, Türken. Hinzu kommen viele Minderheitsgruppen mit sehr eigenen Problemen: Behinderte, Suchtkranke, psychisch Labile, Bildungsferne, Schulabbrecher.

In den sozialen Rankings der Stadt findet sich die Heerstraße Nord immer weit hinten wieder, doch in der Kriminalitätsstatistik ist der Kiez nicht auffällig. Es mutet an wie ein Wunder, aber trotz aller Risikofaktoren kann man in der Heerstraße Nord im Vergleich zu anderen sozialen Brennpunkten der Stadt offenbar friedlich leben.

Anruf beim örtlichen Polizeirevier: Kann das denn sein?

Werner Ipta, seit 38 Jahren im Berliner Polizeidienst, ist nicht nur ein besonnener Mann, ihm liegt auch nichts Menschliches fern. Er sagt: „Die Sozialarbeit vor Ort ist ein ganz wesentlicher Faktor dafür, dass die Kriminalität hier nicht steigt.“ Er habe „Hochachtung vor dem sozialen Netzwerk und seinen Helfern“. Mit Sozialarbeit meint Ipta alles, was im Kiez mit „Beziehungsarbeit“ zu tun hat, also mit einem zwischenmenschlichen Austausch. Die Polizei ist da mittendrin. Iptas Dienststellenleiterin etwa ist in allen Gremien vertreten, in der Stadtteilkonferenz, den Quartiersräten, sogar in den Sitzungen der Wohnungsbaugesellschaften, die fast alle privat sind. Ohne diese enge Struktur, davon ist Ipta überzeugt, wäre der Ortsteil längst schon abgerutscht.

So lautet der Trend der offiziellen Polizeistatistik: Die Kriminalität ist seit Jahren rückläufig, etwa Ladeneinbrüche, Taschendiebstahl oder Rohheitsdelikte auf öffentlichen Plätzen. Auch gebe es hier anders als in den Brennpunkten der City kein „hartes Drogenproblem“, sagt Ipta.

Die größte Sorge: häusliche Gewalt

Trotzdem hat die Politik zum blanken Entsetzen des Quartiersmanagements beschlossen, dass die Heerstraße Nord eine von acht neuen mobilen Wachen in Berlin bekommt. Am 29. Juni wurde sie eingeweiht. Garant dafür, dass dieses Wahlkampfversprechen der SPD umgesetzt wurde, ist Raed Saleh, Fraktionsvorsitzender im Abgeordnetenhaus und Spandauer Kreischef.

Saleh ist selbst in dieser Siedlung groß geworden. Als er neun Jahre alt war, kam er ins Gemeinwesenzentrum und bettelte darum, Zeitungen austragen zu dürfen. Er war zu jung, aber penetrant genug: Brigitte Stenner erlaubte es ihm.

Doch nun waren das Quartiersmanagement und viele Mitarbeiter der sozialen Träger von ihrem Siedlungskind Saleh irritiert. Die Vorsitzende rief empört bei Werner Ipta an, der ihr erklären sollte, ob die Kriminalität wirklich so massiv angestiegen sei, dass eine mobile Wache nötig sei. Alle fürchten, dass der Kiez nun erst zum „kriminellen Brennpunkt“ gemacht und ihre Arbeit dadurch diskreditiert wird.

Natürlich gibt es in der Heerstraße Nord auch schwere Probleme – sie sind allerdings sehr spezifisch und brauchen womöglich andere Instrumente zur Lösung als eine mobile Polizeiwache. Werner Ipta sagt: „Die Aggressivität und Brutalität der häuslichen Gewalt ist unsere absolut größte Sorge.“ Präventiv kann die Polizei kaum tätig werden, präventiv können aber die Angebote wirken, die das Gemeinwesenzentrum anbietet. Dafür jedoch muss man mit den Menschen in Kontakt kommen – und bleiben.

Das Quartiersmanagement schreibt in einem seiner Berichte: Da ein Teil der Anwohner für Beteiligung und Gremien schwer zu erreichen sei, müsse man „sehr niedrigschwellig“ beginnen – etwa mit einem Elternfrühstück in der Kita. Seit Kurzem gibt es zusätzliche Stellen für Sozialarbeiter in den Kitas, um die Eltern so früh wie möglich einzubeziehen. Denn wer die Eltern in den frühen Jahren nicht bekommt, bekommt sie nie.

Wer sich kennt, der hilft sich

Blick aus dem 17. Stock. Knapp 20.000 Menschen leben in der Siedlung.
Blick aus dem 17. Stock. Knapp 20.000 Menschen leben in der Siedlung.

© Kai-Uwe Heinrich

Mohamed Zaidi muss jetzt schnell runter vom Wohnturm. Er ist verabredet mit zwei indischen Menschenrechtsanwältinnen, die gekommen sind, um sich im Gemeinwesenzentrum anzuschauen, wie die Deutschen soziale Quartiersarbeit organisieren. Er bringt die beiden zum Garten des ehemaligen britischen Offizierskasinos auf dem Gelände der alten Kaserne, das nun eine der größten Flüchtlingsunterkünfte Berlins ist. Dort wird jetzt das Zuckerfest eröffnet. Die Sonne brennt, es wird gegrillt, eine Band spielt, Kleinkinder werden geschminkt und natürlich wird auch die Fußball-WM auf einer Leinwand übertragen.

Im Schlepptau hat Zaidi drei Jungs um die 13 Jahre, die schüchtern gucken, als er sie auffordert, mit den indischen Gästen englisch zu sprechen. Das klappt dann doch ein paar Minuten. „My name is Ali“, sagt Ali, dann wird er rot. „I live here“, sagt sein Freund und zeigt auf ein Hochhaus. Alle kichern. Die Jungs mit den dünnen Armen und Beinen, die danach wieder ständig zu dritt auf ein Smartphone starren, besuchen wiederum häufig ein Projekt, in dem Zaidi hilft: „Staakkato“. Der Verein ist die zentrale Einrichtung für Angebote für Kinder- und Jugendliche aller Art: Sport, Kunst, politische Bildung.

Früher hat er mir seiner Gang Lampen im Kiez zerschossen

Vor dem Eingang zum alten Kasino und dem bunt bemalten Willkommensschild steht einer der Streetworker, mit dem Zaidi oft zu tun hat, und grinst: Er kennt ihn schon lange, weiß, dass Zaidi früher mit seiner Jugendgang die Lampen im Kiez zerschossen und anderen Unsinn gemacht hat.

„Kommst du morgen zum Schwimmen?“, fragt der Streetworker einen der Jungen. Dessen Augen leuchten. „Gern.“

„Bringste deine Kumpels mit?“

Der Junge erklärt seinen Freunden auf Türkisch, worum es geht, dann trollen sie sich ohne eindeutige Antwort. Nähe erzeugen, ohne aufdringlich zu sein, ist ein Prinzip der Straßenarbeit. Der Streetworker erklärt ein weiteres: Er wolle die Menschen ins Grübeln bringen, sie dürfen, wie er sagt, „sich auskotzen, motzen, aber dann sollen sie Lösungen finden, bei denen wir helfen“. Er sagt, wie auch Ipta, der Polizist, dass die wichtigste Ressource im Kampf gegen ein Abdriften in die Kriminalität „Beziehungsarbeit“ sei. Doch wer diese leisten wolle, der müsse weit über seinen Job und über persönliche Grenzen gehen.

An ihrer „Beziehung“ haben auch Brigitte Stenner und Mohamed Zaidi arbeiten müssen. Er stammt aus einer tunesischen, konservativ-muslimischen Familie. Er hat fünf Geschwister, aber bis auf einen Bruder sind alle in Spandau geboren. Das Stadtteilzentrum war sein zweites Zuhause, trotzdem hätte er abdriften können. Aber er ging in den Kinder- und Jugendklub, sang wie selbstverständlich im christlichen Chor, er tanzte dort, ging auf Reisen, und er lernte, den Menschen im Zentrum zu vertrauen: wie Brigitte Stenner.

"Meine Mutter war sehr stolz auf mich"

Sie hat ihm geholfen, Bewerbungen zu schreiben, einen Ausbildungsplatz zu finden, andere haben für ihn einen Platz in der Abendschule organisiert, wo er nun sein Abitur nachholen und gleichzeitig für das Gemeinwesenzentrum arbeiten kann. Nach seiner Ausbildung zum Restaurantfachmann war er arbeitslos, bis er sah, dass der Quartiersrat Leute suchte. Er bewarb sich, war aber beim Vorstellungsgespräch krank. Zaidi bekam die Stelle trotzdem und erinnert sich heute: „Meine Mutter war sehr stolz auf mich.“

Einmal, als er 16 Jahre alt war, kam er mit einem Handy zu Stenner. Sein Vater hatte es ihm gegeben, aber alles war nur auf Französisch, ob sie ihm nicht helfen könne? Sie konnte. Übersetzte. Zwei Tage später, es war Winter, lief sie durch das Viertel. Zaidi und seine Jungengang warfen Schneebälle auf Passanten. Als er Brigitte Stenner sah, rief er: „Stopp, nicht auf die. Die ist in Ordnung!“

Wer sich kennt, der hilft sich – so einfach ist das hier im Viertel. Aber es funktioniert nur mit harter Arbeit. Vor zwei Jahren wurde in den Raum des Jungenprojektes eingebrochen, es konnten nur Mitglieder der Gruppe gewesen sein. Zaidi war „total enttäuscht“. Aber dann stellten sie die Gruppe zur Rede, führten viele Gespräche. Am Ende waren alle geklauten Sachen wieder da.

Einmal, erinnert sich Zaidi, habe ein Junge, den er kannte, geschimpft, dass hinter dem Basketballkorb großflächig dornige Sträucher gepflanzt waren, sodass die Bälle kaputtgingen. Der Bezirk entfernte sie erst ein Jahr später, das Gemeinwesenzentrum gab vorher Geld für neue Bälle – aber der Kumpel Zaidis sollte zunächst drei Kostenvoranschläge bringen. Zaidi sagt: „Darauf hatte der erst keinen Bock.“ Er sprach mit ihm und erkannte: Der Junge wusste bis dahin gar nicht, was Kostenvoranschläge sind, hatte sich aber offenbar geschämt, zu fragen. Schließlich machte er mit. Zaidi sagt: „Er musste sich anstrengen und konzentrieren, erst auswählen, dann eigenständig entscheiden, das ist eine enorme Leistung für viele hier. Es war ein Erfolgserlebnis.“

Das wichtigste Bedürfnis: soziale Teilhabe

Unten vor dem Hochhaus und dem Gemeinwesenzentrum treffen Zaidi und Stenner den evangelischen Pastor Cord Hasselblatt, gerade zurück vom Chorsingen. Er erzählt, dass der Chor, in dem Zaidi einst mitsang, so hieß wie eine australische Punkband: „The Saints“. Hasselblatt ist davon überzeugt, dass die individuellen Sehnsüchte und Ansprüche von Menschen in dieser Siedlung den kollektiven Bedürfnissen ähneln. Das wichtigste Bedürfnis sei: soziale Teilhabe.

Doch dafür müssen die Netzwerker auch in Zukunft die Menschen erreichen können. Ein paar Meter vom Zentrum entfernt bleiben Zaidi und Stenner vor einem Schaufenster stehen. Es ist der Stadtteilladen im Erdgeschoss am Ende der Ladenpassage des Staaken-Centers. Drinnen haben Anwohner eine Ausstellung zur Ortsgeschichte organisiert. Man sieht auf vergilbten Bildern, wie dort, wo heute Hochhäuser stehen, bis Ende der 60er Jahre Felder und Wiesen waren. Dieser Raum gehört wie die gesamte Immobilie einem privaten Investor. Seit Jahrzehnten versucht das Gemeinwesenzentrum nun, die Menschen des Viertels in dieser anonymen Umgebung zusammenzubringen.

Der Investor, eine ausländische Immobiliengesellschaft, hat eigene Vorstellungen: In den Stadtteilladen soll ein Automaten-Casino einziehen.

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