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Michael Müller betritt das Rote Rathaus.

© Davids

Die Wahl zum Regierenden Bürgermeister von Berlin: Der Triumph von Michael Müller

Eine Umarmung, ein Händedruck, ein Lachen – dann ist der Machtwechsel vollzogen. Dem neuen Regierenden wünscht Klaus Wowereit gute Nerven und Gelassenheit. Michael Müller wird beides brauchen. Denn das Erbe des Vorgängers wiegt schwer.

Von Ulrich Zawatka-Gerlach

Die Notfallrettung musste kommen. Kurz vor der Wahl des Regierenden Bürgermeisters im Landesparlament war der SPD-Abgeordnete Erol Özkaraca auf dem Weg ins Haus schwer gestürzt. Er hatte im Stau gestanden, eilte in letzter Minute herbei, rutschte aus und fiel auf die Schulter. Gab aber noch, leichenblass und unter starken Schmerzen, seine Stimme ab. Gewiss für Michael Müller. Dann ging’s in die Charité zum Röntgen. Der heroische Einsatz wäre angesichts der komfortablen Mehrheit von Rot-Schwarz im Abgeordnetenhaus gar nicht nötig gewesen. Aber er half, dem Parteifreund Müller ein makelloses Ergebnis zu bescheren.
87 Ja-Stimmen für den Nachfolger Klaus Wowereits, im ersten Wahlgang wurde Müller am Donnerstag zum neuen Regierungschef gewählt. Zwei Stimmen mehr als die rot-schwarze Koalition zur Verfügung hat, eine Enthaltung dazu. Abgeordnete der Piraten hätten bei der geheimen Wahl im Abgeordnetenhaus den SPD-Mann unterstützt, wurde in der Wandelhalle des Parlaments gemutmaßt. Der Pirat Philipp Magalski hatte durchblicken lassen, dass er Müller unterstützen wolle und dessen Parlamentskollege Heiko Herberg bekannte sich nach der Wahl ganz offiziell zu seinem Kreuzchen für den 50-Jährigen. Eine persönliche Zukunftssicherung, knapp zwei Jahre vor der nächsten Wahl in Berlin? Erhält die SPD-Fraktion bald Verstärkung aus den Reihen der Opposition? Wer weiß.

Stolz in die Weihnachtspause

Erst einmal gehen die Berliner Sozialdemokraten stolz in die Weihnachtspause. Donnerstagabend wurde gefeiert – in der „Jahresendsitzung“ der SPD-Fraktion. Ja, die nennt sich so. Auch die Senatsmitglieder sind eingeladen, aber Müller wird wohl nicht kommen, weil er den anstrengenden Tag im Kreis der Familie ausklingen lassen will. Schon um acht Uhr früh, im Osten kämpfte sich gerade ein mattes Morgenrot durch die Regenwolken, hatten sie sich im Foyer des Parlaments versammelt: Ehefrau, Sohn und Tochter, Eltern und Freunde, in gespannter Erwartung und mächtig stolz, um zweieinhalb Stunden später auf der Zuschauertribüne des Plenarsaals Müllers Triumph zu genießen. In der ersten Reihe.

Da stand er nun vor dem Parlamentspräsidenten Ralf Wieland, der ihm den Amtseid abnahm. Schmal, im schwarzen Anzug und mit grauer Krawatte. Ein wenig blass war Müller um die Nase. „Ich schwöre es, so wahr mir Gott helfe.“ Sein Vorgänger Wowereit, der Berlin seit Juni 2001 regierte, stand still da. In diesem Moment hatte er das Amt endgültig verloren. Dann fädelte er sich ohne Eile in die lange Reihe der Gratulanten ein, umarmte Müller herzlich und klopfte ihm kräftig auf die Schulter. Beide lachten. Der Machtwechsel war vollzogen. Entspannt und leicht, in diesem Moment, nach einer mühsamen, kontroversen

innerparteilichen Kandidatenkür, die den Regierungsbetrieb im Land über viele Wochen lahmgelegt hatte.

"Er muss einiges abräumen"

Doch das Erbe des Klaus Wowereit wiegt schwer. „Da muss der Michael einiges abräumen, es gibt ziemlich viele Probleme.“ Der ältere SPD-Genosse, ein stets loyaler Unterstützer des frisch gewählten Regierungschefs, zog die Stirn in Falten. „Mal sehen, wer ihm hilft, ob sein Team funktioniert.“ Der SPD-Mann ging nicht ins Detail, aber es sind in der Tat fette Brocken, die Müller bewegen muss: Der Großflughafen BER, in dessen Aufsichtsrat der neue Regierende Bürgermeister am Freitag zum ersten Mal sitzt. Die vor dem Landgericht gescheiterte Rekommunalisierung des Gas- und Stromnetzes. Die Olympiabewerbung, die Müller pflichtgemäß, aber nicht mit Leidenschaft vorantreiben will. Die anstehende Reform des Finanzausgleichs zwischen Bund und Ländern, die Berlin hart treffen könnte, wenn schlecht verhandelt wird.

Kaum waren die acht Senatsmitglieder vereidigt, kurz nach elf Uhr am Donnerstag, hetzte Müller in den Bundesrat an der Leipziger Straße, wo die Länderchefs auch über den Finanzausgleich berieten. Fußläufig erreichbar, da es einen internen Zugang vom Abgeordnetenhaus zur Länderkammer gibt. Der erste große Termin als Berlins Regierender. Die Kollegen Länderchefs begrüßten den Neuling freundlich, trotzdem konnte sich der brandenburgische Ministerpräsident Dietmar Woidke einen Scherz nicht verkneifen. Müller sei sicher im Glauben, er könne „hier einen schönen Tag haben“. Dröhnendes Gelächter. Müller hielt sich mit Wortmeldungen erst einmal zurück, auch später, beim Kamingespräch der Ministerpräsidenten.

"Es gibt keine Schonfrist", verkündete die Opposition

Den gepanzerten Dienstwagen, der ihm jetzt zusteht, konnte Müller vorher ausprobieren. Denn die übrigen acht Senatsmitglieder erhielten noch am Vormittag ihre Ernennungsurkunden, wie es sich gehört im Amtssitz des Regierenden, dem Roten Rathaus. Auf der Treppe mit dem roten Teppich zum Wappensaal standen dort ein Dutzend Schornsteinfeger Spalier. Zu deren Innung hielt der bisherige Stadtentwicklungssenator als oberster Dienstherr der Männer in Schwarz stets einen guten Draht. Müller strahlte. So etwas mag er. Vor einer Woche erst hatte er sich im Plänterwald bei der traditionellen Sauvesper von den Förstern und Jagdhornbläsern bei Wildschwein und Glühwein verabschiedet, sich am Lagerfeuer für die „tolle Zusammenarbeit“ bedankt und selbstbewusst bilanziert: „Wir haben eine Menge auf den Weg gebracht.“ Das sehen nicht alle so. „Es gibt keine Schonfrist“, kündigte die Grünen-Fraktionschefin Ramona Pop nach der Wahl Müllers an. „Es kann nicht sein, dass wir diesen Senat, der seit drei Monaten nicht mehr regiert, erst mal hundert Tage in Ruhe lassen.“ Fröhliche Weihnachten, okay. Aber ab Januar müsse Müller liefern. Pop spricht von den Problemen, die offenkundig sind. Die Sanierungskosten für die Staatsoper haben sich mit 400 Millionen Euro fast verdoppelt. Die Verkehrslenkung Berlin, unter anderem zuständig für die Koordination hunderter Baustellen, gilt als peinlichste Behörde Berlins, weil sie nicht nur wegen fehlender Stellen wenig auf die Reihe kriegt.

Fragen über Fragen

Und wie steht es um Müllers Glaubwürdigkeit? Nach der krachenden Niederlage beim Volksentscheid zum Tempelhofer Feld hatte er versprochen, aus Erfahrung klug zu werden und der Beteiligung der Bürger künftig mehr Beachtung zu schenken. Doch wenige Tage vor seiner Wahl, als der Unwille der Bürger die Wohnbebauung der Buckower Felder bedrohte, wurde das strittige Areal auf Initiative der Stadtentwicklungsbehörde zum Gebiet von „außergewöhnlicher stadtpolitischer Bedeutung“ ernannt – und somit dem Zugriff durch ein bezirkliches Bürgerbegehren entzogen.

Fast schon vergessen ist der Streit um das Internationale Congress Centrum, das zu verrotten droht. Die Zentral- und Landesbibliothek braucht einen neuen Standort und wenn die Modemesse Bread & Butter sich

aus Berlin verabschieden sollte, wäre der Weg frei für eine Sanierung des alten Flughafengebäudes in Tempelhof. Aber wer soll das bezahlen und wo ist das Konzept? Fragen über Fragen. Und alles hat irgendwie mit Müllers bisheriger Arbeit im Senat zu tun.

Seine Schwerpunkte: Wirtschaft, Bildung, Arbeit und sozialer Ausgleich

Am Mittwoch hatte er noch die letzten Sachen, die er mitnehmen wollte, aus seinem alten Büro in der Senatsverwaltung für Stadtentwicklung in der Württembergischen Straße geräumt und war dann nach Hause gefahren. Aber die Themen, um die er sich bisher kümmern musste, werden ihn weiter begleiten. Das gilt auch für den Neubau von Wohnungen in einer Stadt, die schneller wächst, als die rot-schwarze Koalition gucken kann. Es gibt zwar viele Pläne, damit das Wohnen in Berlin bezahlbar bleibt, aber es fehlen bislang öffentliches Geld und Personal, um die schönen Ankündigungen wirksam umzusetzen. „Alles etwas halbherzig“, hört man auch im SPD-Landesverband.

Im Rathaus versprach Müller, als er am Donnerstag kurz vor die Presse trat, dass er nun „richtig durchstarten“ wolle. Seine Schwerpunkte seien: Wirtschaft, Bildung, Arbeit und sozialer Ausgleich. Das ganze sozialdemokratische Programm. Schon am 8. Januar wird der Senat in Klausur gehen, um eine Bestandsaufnahme der immer holpriger werdenden Zusammenarbeit der Regierungsparteien SPD und CDU zu machen. Der Chef der Unionsfraktion im Abgeordnetenhaus, Florian Graf, wünschte dem Regierungschef nach dessen Wahl schon einmal „Glück, Erfolg und Gottes Segen“.

Nicht nur für die SPD, auch für die CDU beginnt eine neue Ära

Das kann er brauchen, der Müller. Als vierter Regierender Bürgermeister seit dem Mauerfall hat er verschiedene Modelle vor Augen: die Langzeit-Regimes des Christdemokraten Eberhard Diepgen und des Sozialdemokraten Klaus Wowereit. Und das rot-grüne Intermezzo des Parteifreunds Walter Momper, der Ende 1990 nach einer hochinteressanten, aber kurzen Regierungszeit von den Berliner Wählern gleich wieder verabschiedet wurde. Die zunächst prickelnde Liaison mit der Alternativen Liste war schnell in den Zustand einer zerrütteten Ehe abgedriftet. Endlose Diskussionen, ständiger Streit …

Es ist klar, welches Modell von Müller bevorzugt wird. Aber schon im Herbst 2016 wird gewählt, er hat bis zum Wahlkampf nur eineinhalb Jahre Zeit, um bei den – von Rot-Schwarz bisher enttäuschten – Berlinern Punkte zu sammeln. Der Koalitionspartner CDU, der in den Umfragen derzeit bei 27 Prozent liegt – und damit auf Augenhöhe mit der SPD –, wird dem Regierenden Bürgermeister allerdings nicht dabei helfen, einen Wahlsieg einzufahren. Die Union ist selbstbewusster geworden. Sie fordert mehr und schärft ihr Profil. Für die CDU ist es ein Unterschied, ob sie mit Müller regiert oder, wie bisher, mit dem charismatischen, notfalls knallharten Wowereit.

Viele herzen Wowereit

Als einer der ersten Senatsmitglieder fuhr am Donnerstag, es war noch dunkel und die letzten Putzfrauen waren damit beschäftigt, ihre Utensilien aus den Fluren zu räumen, der Innensenator und CDU-Landeschef Frank Henkel vor. Mit grüner Krawatte zum schwarzen Anzug. Interessant. In der Hand ein Zellophanpäckchen, darin ein Opernglas und Loriots „Opernführer“. Ein passendes Abschiedsgeschenk für den scheidenden Regierungschef und Kultursenator. Henkel grinst breit, bevor er ins Abgeordnetenhaus eilt. „Für den Ruhestand, haha!“ Nicht nur für die Berliner SPD, auch für die Union begann am Donnerstag eine neue Ära.

Und Klaus Wowereit? Nach der Vereidigung Müllers stand er ganz in der Nähe des Freundes und Vertrauten. Und jene Abgeordneten, Senatoren und Staatssekretäre, die dem neuen Regierungschef gratulierten, schlenderten gleich weiter zum Vorgänger, um Tschüss zu sagen. Viele schüttelten ihm nicht nur die Hand, sondern herzten ihn, auch Politiker der Linken, mit denen Wowereit im Senat fast ein Jahrzehnt meistens gern zusammengearbeitet hatte. Dann spazierte der Ex-Regierende in die Wandelhalle, absolvierte noch schnell ein Dutzend Interviews. Ein Lächeln spielte um die Lippen.

Ja, sein Nachfolger brauche jetzt „viel Unterstützung, ein gutes Nervenkostüm, Kondition und ein Stück Gelassenheit“, sagte Wowereit in die Mikrofone. Er freue sich nun auf Weihnachten, im Kreis der Familie und Freunde. Irgendwann war alles gesagt. Wowereit drehte sich noch einmal um und schritt leichten Fußes aus der Wandelhalle des Parlaments. Es fehlte nur die Verbeugung. Jetzt hätte der Vorhang fallen müssen. Das war’s.

Dieser Text erschien auf der Dritten Seite.

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