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Berlin: Die Wüste lebt

Kino, Bar und Galerie: Die Tilsiter Lichtspiele haben am Ostkreuz eine neue Spielwiese gefunden.

Dass das hier die Zukunft sein soll, da käme man erst mal auch nicht drauf. Das Gelände in der Wüstenei aus Baugruben, Brachen, Gewerbe und Betonblocks rund um den Wasserturm neben dem S-Bahnhof Ostkreuz sieht nämlich eher nach Vergangenheit aus. Doch in den Ruinen des vor drei Jahren in der Laskerstraße abgebrannten ehemaligen Filmlagers des Progress-Filmverleihs, in dem zwischenzeitlich Technoclubs wie das „Ministerium für Entspannung“ siedelten, regt sich was.

Baracken, Lagerfeuerasche auf dem Hof, Verschläge mit Baumaterial und darüber ein Schild „Kinobar“ – das also ist der neue Ableger des verdienten Friedrichshainer Programmkinos Tilsiter Lichtspiele: Kino Zukunft samt Freiluftkino Pompeji, Kneipe, Ausstellungsräume, Musikkeller Tiefgrund und Biergarten.

Zwar lädt die neue Spielwiese für Offkultur erst am 1. Mai zur großen Eröffnungsparty, doch im Saal 3 ist schon seit Januar jeden Abend Kinobetrieb, im Saal 4 seit Ende Februar – und in den Kunstkabine genannten Nebenräumen gibt es am heutigen Samstagabend die erste Vernissage. Dem Geist des Ortes angemessen, sind skurrile Ölgemälde des in Mitte ansässigen Physikers und Künstlers Markus Johne alias Rollo Kosmos Graf Schlaf zu sehen.

Das hier sei der gute alte Spirit der Neunziger – „alles, bloß nicht perfekt“, sagt Kinoprogrammleiter W. Gladow, nachdem er eine Gruppe ausländischer Architekturstudenten verabschiedet hat. Keine Trashbude, sondern ein Dauerprovisorium, an dem fortlaufend weitergebastelt wird. Und wieso ist das interessant für Architekturstudenten? W. Gladow erklärt: Das seien Teilnehmer des Medienboard-Symposiums „Cinema of the Future“, wo es um zukunftsorientierte Modelle, Programmkino in der Nachbarschaft zu machen, geht. Na, so was, da wird doch glatt so ein struppiges No-Budget-aber-Begeisterung-Ding wie dieses zur Blaupause für subkulturelle Aktionen in anderen Städten der Welt.

Natürlich macht W. Gladow, der auf Fotos prinzipiell nur mit einer Sonnenbrille als kleinem Verfremdungseffekt auftritt, das nicht allein. Er ist nur der Typ, der das Kollektiv nach außen vertritt. Dazu gehören inzwischen rund 25 meist in Friedrichshain lebende Leute, die 1992 die Filmsatire „Die Wahrheit über die Stasi“ drehten, 1994 das mehr als 100 Jahre alte Hinterzimmerkino Tilsiter Lichtspiele samt Kneipe wiederbelebten und dann in der Torstraße die kultige Imitation einer HO-Gaststätte aufmachten – das „W. Prassnik“.

Und weil ein bisschen Verdunkelung und Fantasie-Anheizen bei Filmfreaks dazugehört, ist W. Gladow selbstredend ein Pseudonym. Der echte Werner Gladow war so ziemlich der schillerndste Sohn des Bezirks. Er gelangte in den Trümmern von Nachkriegsberlin samt seiner Räuberbande zu spektakulärem Kriminellenruhm und wurde 1950 mit 19 Jahren in Frankfurt/Oder hingerichtet. Leben und Tod, wie geschaffen für einen Kinostoff. Der Dichter Thomas Brasch hat ihn 1980 in „Engel aus Eisen“ verfilmt. Und wieso ist ausgerechnet der jetzt den Kinoquerdenkern am Ostkreuz eine Inspiration? „Weil er sein Glück im Chaos gesucht hat“, sagt W. Gladow, „und weil er ein Kinobesessener war, der genauso leben wollte, wie er es in den Al-Capone-Filmen der Dreißiger gesehen hat.“

Das Glück im Chaos suchen, das stimmt, das machen sie hier, wo die Leinwand im „Pompeji“ zwischen zwei beim Brand stehen gebliebenen Ruinenwänden unter freiem Himmel hängt und nichts fest gefügt und alles offen ist. „Jeder, der eine Idee hat, ist eingeladen, sie hier zu verwirklichen“, sagt W. Gladow. Gepachtet haben sie das Gelände erst mal für zehn Jahre, mit fünf Jahren Verlängerungsoption. Bevor sie vergangenes Jahr hier fündig wurden, haben sie drei bis vier Jahre vergeblich nach so einem Freiraum gesucht. „Hier macht der Ort die Idee und schafft seine eigenen Träume.“

Kino Zukunft, Laskerstraße 5, Friedrichshain, www.kino-zukunft.de, Gemäldeausstellungseröffnung am Sonnabend, 17. März, um 19 Uhr.

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