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20 Jahre nach dem Mord an Hatun Sürücü meldet sich ihr Sohn zu Wort.

© Screenshot Tagesspiegel/YouTube/Mein Name ist Can Sürücü; dpa/Andreas Altwein

„Diese Nacht wird mich mein ganzes Leben verfolgen“: 20 Jahre nach dem Mord an Hatun Sürücü meldet sich ihr Sohn zu Wort

Im Februar 2005 wurde Hatun Sürücü in Berlin von ihrem jüngeren Bruder erschossen. Jetzt spricht ihr Sohn über den Mord an seiner Mutter, den Schmerz und das Leben danach. 

Stand:

Eine Erinnerung habe er, sagt Can Sürücü. „Da hat ein kleiner Junge mein Skateboard geklaut.“ Seine Mutter sei dann gekommen und habe es zurückgeholt. „Das war ein richtiger Heldenmoment“, sagt er. Viele Erinnerungen an sie konnte Can Sürücü nicht sammeln: Seine Mutter, Hatun Sürücü, wurde am 7. Februar 2005 in der Oberlandstraße in Tempelhof von ihrem jüngeren Bruder mit drei Kopfschüssen getötet. Sie wurde 23 Jahre alt.

Jetzt, 20 Jahre später, hat sich ihr Sohn selbst zu Wort gemeldet. Nach einem Gespräch in dem Yotube-Format „Besuchszeit“ haben er und ein Freund mehrere Videos auf Youtube, Tiktok und Instagram veröffentlicht.

Damals war er fast sechs Jahre alt

Can Sürücü stand damals kurz vor seinem sechsten Geburtstag. Er wuchs nach dem Mord an seiner Mutter unter neuem Namen bei Pflegeeltern in Reutlingen auf. Lange war sein Aufenthaltsort geheim – auch, um ihn vor seiner eigenen Familie zu schützen.

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Jetzt begleiten ihn die Kamera und sein Freund Ramo bei einem Besuch in seiner alten Heimatstadt Berlin. Die beiden laufen zu den Orten seiner Kindheit, besuchen den Tatort, seine alte Wohnung. Erstmals erzählt Can Sürücü seine Version der Geschichte. Er berichtet von dem Chaos, das nach dem Mord über ihn hereinbrach, vom schwierigen Verhältnis zu seiner Familie, davon, wie er die Tat selbst erlebt hat.

Er spricht aber auch über die vielen schönen Momente mit seiner Mutter, in seiner Kindheit. „Es gibt viele Sachen, die ich niemals aus meinem Kopf bekommen habe“, sagt er, sichtlich bewegt. „Sie war ein Zeichen für Freiheit und für Frauenrechte“, sagt Can Sürücü über seine Mutter.

Mit Berlin und seiner Mutter verbindet er vor allem schöne Erinnerungen

Er sei traurig, wieder an den alten Orten zu stehen. Gleichzeitig verbinde er mit Berlin vorrangig schöne Momente. „Ich freue mich auch einfach, dass ich wieder hier stehen kann, alte Erinnerungen habe und darüber sprechen kann“, sagt er vor der roten Tür seines alten Wohnhauses.

Nur wenige hundert Meter von dieser Haustür entfernt wurde Hatun Sürücü damals erschossen. Heute erinnert eine Gedenktafel an sie. „Hier ist der Platz, wo ihr Leben beendet wurde und mein Leben sich verändert hat“, sagt Can Sürücü.

Am Tatort erinnert heute ein Gedenkstein an Hatun Sürücü.

© dpa/Lukas Schulze

In einer Szene steht er in seinem alten Kinderzimmer, blickt vom Fenster auf die Straße. „Hier stand ich, als ich meine Mutter das letzte Mal gesehen habe“, sagt er. Er erzählt, wie er ihr damals hinterhersah, als sie mit seinem Onkel wegging. Er habe sich hingelegt und geschlafen. Dann sei plötzlich die Polizei durch die Tür in sein Zimmer gestürmt. „Ich saß auf meinem Bett und habe geheult“, sagt Can Sürücü.

„Diese Nacht wird mich mein ganzes Leben verfolgen.“

Er habe nicht gewusst, was vorgefallen sei. Polizistinnen hätten seine Sachen gepackt, ihn mitgenommen. „Ich habe diese Wohnung nie wieder gesehen“, sagt er. Er habe immer wieder gefragt: „Wo ist meine Mama?“ Darauf habe er keine Antwort erhalten. Niemand habe ihm damals erzählt, was vorgefallen war.

Meine Mutter hat alles getan für mich.

Can Sürücü über seine Mutter Hatun

Er sei dann zu einer Pflegefamilie in Berlin gekommen. „Da habe ich gemerkt, dass irgendwas nicht stimmt“, sagt Sürücü. Später habe er erfahren, dass die Familie seiner Mutter um das Sorgerecht gekämpft habe. Das lehnte das Gericht damals ab. „Gott sei Dank“, sagt Sürücü. Er wuchs dann in Reutlingen auf. Erst alt er 14 Jahre alt war, hätten seine Adoptiveltern ihm dann die ganze Geschichte erzählt.

Seine Mutter hätte nicht gewollt, dass er bei ihren Verwandten aufwachse. „Ich wäre da niemals glücklich geworden“, sagt er. Heute empfinde er für die Familie „puren Hass“, sagt Sürücü. „Für die kann man nichts anderes empfinden.“

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Sürücü erzählt, wie schwierig die Situation seiner Mutter damals gewesen sei. Hatun Sürücü war als Jugendliche in der Türkei mit einem Cousin zwangsverheiratet worden und hatte sich aus dieser Ehe selbst befreit. Er spricht auch darüber, dass sein Verhältnis zu seinen Onkeln – den späteren Mördern seiner Mutter – lange normal gewesen war. Er habe viel mit ihnen unternommen, sei etwa mit ihnen ins Kino gegangen.

Allmählich sei der Kontakt zur Familie dann weniger geworden, es habe immer wieder Streit in der Familie gegeben. Irgendwann habe sie dann das Kopftuch abgelegt, ihm den Kontakt zu ihrer Familie verboten. Er habe damals gespürt: „Da bahnt sich etwas Schlimmes an.“

„Meine Mutter hat alles getan für mich“, sagt Can Sürücü. Seine Mutter sei zielstrebig gewesen und habe versucht, ihren eigenen Weg zu gehen.

Gefragt nach seiner Motivation, jetzt über den Tod seiner Mutter zu sprechen, sagt er: „Ich will die Leute aufklären.“ Er wolle anderen Menschen, die es im Leben nicht leicht haben, Kraft und Hoffnung geben. Zugleich berühre ihn sehr, dass der Fall weiter so viele Menschen bewege.

Der Mord an Sürücü löste damals eine deutschlandweite Debatte über sogenannte „Ehrenmorde“ aus. Ihr jüngster Bruder wurde nach dem Mord zu einer Jugendstrafe von neun Jahren und drei Monaten verurteilt. Zwei ältere, ebenfalls angeklagte Brüder wurden aus Mangel an Beweisen freigesprochen. Mittlerweile leben die drei Brüder in der Türkei, dort läuft ein Wiederaufnahmeverfahren gegen sie.

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