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Berlin: Dieter-Joachim Rötche (Geb. 1923)

Immer wieder Vertröstungen. Elf Jahre und 32 Tage

Am 8. August 1961 heiratete er seine Hanne-Lore. Elf Jahre und 32 Tage später konnten sie zusammenziehen.

Er selbst war bald nach dem Krieg in den Westteil der Stadt umgesiedelt. Freunde hatten ihn gewarnt, sich nicht mehr politisch zu äußern und vor allem die Lektüre des „konterrevolutionären Tagesspiegels“ zu unterlassen. Aber er ließ sich nichts verbieten.

Hanne-Lore blieb in der Verlobungszeit im Osten, im Elternhaus. Eine Umzugsgenehmigung wurde nach der Heirat – ohne Angabe von Gründen – nicht erteilt. Nicht einmal einen Passierschein bekam sie. Das Deutsche Rote Kreuz intervenierte, der Intendant der Staatsoper, bei der sie als Kostümbildnerin tätig war, ergriff für sie Partei.

Bescheid der Volkspolizei: „Es muss gesagt werden, dass für ihre persönlichen Belange zum Besuch Ihres Ehemannes volles Verständnis vorhanden ist, dieser jedoch durch die verhandlungsfeindliche Haltung des Westberliner Senats nicht erfüllbar ist. Es wird deshalb gebeten, Verständnis für diese Entscheidung zu haben, in dieser Hinsicht von weiteren Anfragen bis zum Zustandekommen staatlicher Vereinbarungen abzusehen.“

Daraufhin schrieb sie an Walter Ulbricht. Der Brief wurde umgehend an die Volkspolizei weitergeleitet.

„Sie können sich hinwenden, wo sie wollen, es landet doch immer wiederum auf unserem Schreibtisch.“ Jahr um Jahr.

Der Staatssekretär Egon Bahr versprach Hilfe „im Rahmen des Möglichen“.

Dieter Rötche schrieb gemeinsam mit seiner Frau an den Innenminister der DDR, sie appellierten an Erich Honecker, an den Ministerpräsidenten Stoph, an den Bundespräsidenten Heinemann. Immer wieder Vertröstungen. Elf Jahre und 32 Tage.

Seit er in den Osten durfte, sahen sie sich zweimal die Woche. Punkt Mitternacht musste er die Grenze überquert haben. Ein Aktenordner voller Bittbriefe.

Dann endlich, Februar 1972, der Bescheid, die Ausreise Hanne-Lores sei genehmigt – aber ein genaues Datum stehe noch nicht fest. Weitere Monate des Wartens, des Hinhaltens. Dann die Aufforderung einer detaillierten Umzugsgutaufstellung, acht Blätter Haushaltswaren, die Schallplattenaufstellung drei Blätter, die Buchaufstellung 14 Blätter, alles in dreifacher Ausfertigung. Am 9. September 1972 durfte Hanne-Lore ausreisen, das Ehepaar bezog eine gemeinsame Wohnung, nicht weit von der Deutschen Oper, wo sie eine Anstellung fand.

Er hatte sich in den Jahren der Trennung zum Erzieher ausbilden lassen. Schwer erziehbare Jugendliche. Als er das, mit sechzig, am eigenen Leib zu spüren bekam, und wiederholt verprügelt wurde, ging er in Rente – was für ihn bedeutete: Überall dort anzupacken, wo es etwas zu tun gab, ob in der Nachbarschaft oder in der Rheumaliga.

Er liebte die Alpen und das Wandern in mäßigen Höhen, er las gern, und er blieb dem Tagesspiegel treu. Exzerpierte, schnitt Artikel aus, unterstrich, markierte farbig, legte Dokumentenmappen zu historischen Themen an.

Und er führte unermüdlich Tagebuch. Von seiner Jugend an bis zu den Tagen des Sterbens: „Tägliches Tagebuch eines Zeitzeugen und das vierte im Hospiz“.

Darin vermerkt die Pfleger und Pflegerinnen, bei denen „die Chemie stimmte“, eingeklebte Bilder, darunter zwei seiner Brüder, die beide bei Verkehrsunfällen ums Leben gekommen waren, dann das Wetter, die Speisen, notiert mit Filzstift in verschiedenen Farben, die allmorgendliche Radiosendung „DLR-Kultur, ehemals Rias Berlin“, und täglich: Hanni.

Er vermerkt „gute und inhaltsvolle Gespräche“ mit seinen Freunden, aber auch zunehmende Atemnot. Schlechte Nächte. „Luft, Luft und nochmals Luft.“ Und er zieht Bilanz: „Walte Gott – es ist nicht leicht einen guten ,Abgang’ zu finden – zu erleben. Um wie viel schwerer wäre es, wenn ich nicht solch ein gutes liebevolles Umfeld um mich hätte – von zu Haus und hier im Haus.“

Der letzte Eintrag am 28. Mai stammt von der Schwester: „Bin um 13.30 Uhr friedlich, ohne Schmerzen, eingeschlafen.“ Gregor Eisenhauer

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