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Berlin: Dieter Weier (Geb. 1942)

„Wärst du Pionier gewesen, würdest du nicht so reden!“

Den perplexen Grenzbeamten an der Friedrichstraße schleuderte der Ost-Berliner Dieter Weier seinen DDR-Ausweis auf den Tisch. „Ich will zu meiner Familie!“ Dorthin ließen sie ihn nicht, sondern in Untersuchungshaft. Es war das Jahr 1985, und er wollte seinen schwerkranken Vater besuchen. Die Stasi hatte viele Fragen an Roswitha, seine Frau, sie hatte keine Antworten. Er hatte getrunken, keine Frage. Er soll aggressiv geworden sein, das passte nicht. Sein Verhältnis zur DDR? Dieter war doch freiwillig hier. Ein Übersiedler aus dem Westen, der Liebe wegen.

20 Jahre zurück, 1965: Er ist jung, auf Studienreise in West-Berlin, als er mit einem Kommilitonen die Hauptstadt der DDR besucht. Tagesvisum, HB-Zigaretten in der Tasche, ND in der Hand. Nur nicht auffallen. Roswitha ist 18 und sitzt mit ihrer Mutter im Restaurant Bukarest, Karl-Marx-Allee. Sie sieht ihn und ist hingerissen. Sie ist Krankenschwester, er studiert Theologie und Soziologie in Hamburg. Kommt aus einer Arbeiterfamilie in Oberhausen, die große Erwartungen in den einzigen Sohn setzt. Sie treffen sich immer wieder, er mit Tagesvisum, gestundete Zeit. Zwei Jahre später wird Roswithas Mutter Oma. Und sie sagt: „Wenn Dieter nicht kommt, schaffen wir das auch alleine.“ Aber Dieter kommt. Er wird Bürger der Deutschen Demokratischen Republik. Allein seine kommunistische Tante mit Exilerfahrung begrüßt den Schritt. Sie und seine Eltern darf er nun nicht mehr besuchen.

1974 ist es geschafft: Raum-Zuweisung Prenzlauer Berg. Die große Altbauwohnung wird zur Wohlfühlinsel für seine Familie und den Freundeskreis. Dieters größte Liebe, gleich nach der Familie, gilt der Literatur. Er schleppt Kohlen für alte Buchhändlerinnen und bekommt von ihnen rare Bücher. Mit seinem langen schwarzen Haaren und dem Bart sieht er aus wie ein Dissident. Aber davon ist er weit entfernt. Auch wenn es Kontakte zur Prenzlauer-Berg-Boheme gibt, verläuft sein Leben doch in anderen Bahnen.

Seit 1969 arbeitet er beim Zentralinstitut für Metallurgie am Alexanderplatz, erst als technischer Zeichner, dann nach einem Fernstudium als Problemanalytiker. Er programmiert monströse Rechenmaschinen. Und sieht viele seiner Ideen im Papierkorb verschwinden.

Die Gesprächsrunden werden hitziger, Dieter auch. Im Betrieb und privat sagt er seine Meinung und hält nicht still – wohl ein Relikt seiner West-Vergangenheit. „Wärst du Pionier gewesen, würdest du nicht so reden!“ Das sagen die wohlmeinenden Kollegen. Seine Stasiakte wächst. Seine Besuchsanträge nach Oberhausen werden abgelehnt, ohne Begründung.

Dieter verehrt Manfred Krug. Als der die DDR verlässt, ist das ein Signal. Der Staat hat Dieter verloren, die alte Arbeitswelt auch. Er steigt aus, wird 1981 Psychiatrie-Hilfspfleger in Weißensee. Und hofft, als so kleines Licht die alte Heimat doch noch besuchen zu dürfen. Er darf nicht. In der DDR-Psychiatrie läuft alles noch wie eh und je, im Weißenseer Krankenhaus lockern sich aber die Grenzen zwischen Pflegepersonal und Patienten. Fast jeder Pfleger hier hat einen Ausreiseantrag, ebenso etliche Patienten. Alle warten. Auf Augenhöhe grüßen sich die Ausreißer mit und ohne Kittel.

1984 beschließt auch Dieter mit seiner Frau, einen Ausreiseantrag zu stellen: Familienzusammenführung. Abgelehnt. Dieter versucht, die Enttäuschung, die Wut nicht andere spüren zu lassen. Bis zu jenem Tag am Grenzübergang Friedrichstraße. „Nötigung der Staatsorgane“ lautet die Anklage, Urteil ein Jahr Haft in Naumburg. Neun Monate sitzt er ab, dann kauft der Westen den verlorenen Sohn wieder frei. Wolfgang Vogel, der Anwalt für Menschentauschangelegenheiten, verhandelt, und einen Monat später ist Dieters ganze Familie in West-Berlin. Sie haben viel zurückgelassen, Verwandte, Freunde, Leben. Dieter, der Macher, hat bereits eine Wohnung am Karl-Marx-Platz in Neukölln und Schulplätze für die Kinder organisiert. Und er macht jetzt eine Ausbildung zum Krankenpfleger, ganz offiziell, wieder Psychiatrie.

Der Mauerfall ist ein Schock. Überhaupt keine Freude. Zu lange hat man ihm die Freiheit vorenthalten, das sitzt tief. Er hat Opfer gebracht, jetzt haben es alle leicht. Und dann noch das Studium der dicken Stasiakte.

1993 bekommt Dieter die Diagnose Nierenkrebs, eine Niere muss entfernt werden. Er sieht einen Zusammenhang zur Haft, die ihm „an die Nieren gegangen“ ist. Trotzdem bleibt er lebenslustig. Mit Roswitha verreist er oft, und die Geburt der Enkelin Charlotte ist ein Geschenk. Für sie tut er alles, für sie verdrängt er auch die Angst vorm Krebs, der ihn wieder ereilt. Erik Steffen

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