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Diskussionsabend: "Weinen ist kein Beweis"

Der Forensiker Hans-Ludwig Kröber sieht große Defizite bei der Aufarbeitung sexueller Missbrauchsfälle.

Von Caroline Fetscher

Der Professor ist nicht zufrieden. Nicht mit der aktuellen Missbrauchsdebatte, nicht mit den Medien und deren Hang zur Sensationsmache. Mancher Chefredakteur warte wohl darauf, vermutet Hans-Ludwig Kröber, auch noch „den Kopf des Papstes servieren“ zu können. Kröber, 59, Direktor des Instituts für Forensische Psychiatrie der Freien Universität Berlin, sprach am Montagabend vor einem vollen Hörsaal des Reinickendorfer Vivantes-Klinikums zum Thema „Sexueller Missbrauch in katholischen Einrichtungen und anderswo; in der Nachkriegszeit und später“. Das parkartige Gelände beherbergt auch die Bauten des Maßregelvollzugs, gelbe Backsteinbauten, teils befestigt mit sechs Meter hohem Panzerglaszaun, Natodraht und Gittern. 44,7 Millionen Euro kostet der Maßregelvollzug für 638 Patienten im Jahr 2010.

Hier werden auch Sexualstraftäter behandelt, solche, mit denen sich Kröber wissenschaftlich befasst. 16 000 Anzeigen wegen Kindesmissbrauchs gingen 2008 bei der Polizei ein. Bei sexuellem Missbrauch von Kindern liegt laut der gestern vom Bundesinnenministerium veröffentlichten Kriminalstatistik für 2009 mit 11 319 Fällen der niedrigste Wert seit 1993 vor. Allerdings: „In diesem Deliktbereich muss nach wie vor von einem hohen Dunkelfeld ausgegangen werden“, heißt es dazu. Kröber führt die hohe Anzahl der Taten in den Nachkriegsjahren auf die verklemmte Sexualmoral und die Erfahrung zweier Weltkriege der Tätergeneration zurück. Dass jetzt eine „Sakralisierung der Opfer“ geschehe, dass Missbrauchsopfer als „Überlebende“ dargestellt werden, oder sogar, wie von Pater Mertes zu Ostern im Tagesspiegel als „Auferstandene“, hält Kröber für falsch. Er frage sich darüber hinaus, warum jeden Monat „tausende Minderjährige“, vor allem aus der Unterschicht, Missbrauch anzeigen, während Schüler von Eliteinternaten Jahrzehnte zu diesem Schritt bräuchten. Julia von Weiler, Leiterin der Organisation „Innocence in Danger“ erklärt dazu: „Es ist in der Praxis kaum die Erfahrung, dass Kinder selber Anzeige erstatten.“ Vielmehr geschehe dies in der Regel durch Erzieher, Lehrer, Jugendämter, Ärzte. In der Unterschicht würden tendenziell mehr Fälle bemerkt, da hier die staatliche Aufsicht am stärksten ist.

Im Fall Mixa, empörte sich Kröber, habe die Presse den Augsburger Bischof schlicht vorverurteilt. Unter Verdacht stehen bei ihm da auch die ungeschulten „so- genannten Sonderermittler“, etwa wenn sie Aussagen über Tatbestände beurteilen, die lange zurückliegen. „Dass einer weint, wenn er aussagt, ist noch kein Beweis“, stellte der Professor klar. Forensikern geht es um die Ermittlung von Lüge, Schuldfähigkeit oder Glaubwürdigkeit, um das Aufdecken von Straftaten. „Leider können Forensiker oft nicht zwischen Kriminellen und traumatisierten Menschen unterscheiden, die lange unfähig sind zu sprechen“, bedauerte die Berliner Trauma-Expertin und Psychoanalytikerin Franziska Henningsen. „Erinnerungs- und Konzentrationsvermögen sind bei Traumatisierten so angegriffen, dass sie meist erst nach vielen Jahren ihre traumatische Erfahrung in Worte fassen können.“

In der kontroversen Diskussion nach dem Vortrag kritisierte ein Oberarzt, dass eine seriöse, wirksame Therapie für Traumatisierte schwer zu finden sei, der Markt enthalte ein „Sammelsurium“ von Methoden. Man sei weit davon entfernt, Traumata so ernst zu nehmen wie andere schwere Krankheiten, für die es spezielle Behandlungszentren gibt. Diesem Urteil konnten alle zustimmen. Auch der unzufriedene Professor.

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