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Schicksale erzählen. Patrick Siegele ist Direktor des Berliner Anne-Frank-Zentrums. Der Eingang liegt in der Rosenthaler Straße in Mitte.

© Thilo Rückeis

Doku über Anne Frank: „Ich will nicht umsonst gelebt haben“

Die ARD zeigt heute Abend einen neuen Film über Anne Frank und das Schicksal ihrer Familie. Wie kann die Erinnerung bewahrt werden? Besuch in einem Berliner Zentrum für Kinder und Jugendliche.

„Ich will nicht umsonst gelebt haben wie die meisten Menschen. Ich will fortleben, auch nach meinem Tod“, schreibt Anne Frank am 4. April 1944 in ihr weltberühmtes Tagebuch. Heute klingen diese Worte beklemmend prophetisch.

Auf der ganzen Welt kennt man die Geschichte des jüdischen Mädchens, das Versteck in einem Hinterhaus in Amsterdam, die Deportation und ihre Ermordung im Konzentrationslager Bergen-Belsen. In Berlin und Potsdam wurden die Spielfilmszenen zu einem neuen Doku-Drama gedreht, das am heutigen Mittwochabend in der ARD zu sehen ist. Auch 70 Jahre nach ihrem Tod ist Anne Frank vor allem für Jugendliche noch immer eine starke Identifikationsfigur, die die Schrecken des Nationalsozialismus aus der Sicht einer Gleichaltrigen fühlbar macht.

Eine präzise Beobachterin

„Auf den ersten Blick ist Anne Frank nichts Besonderes“, sagt Patrick Siegele, Leiter des Anne-Frank-Zentrums in Berlin. In ihrem Versteck in der Prinsengracht 263 im Amsterdamer Exil schreibt die Frankfurter Jüdin über ganz normale Teenagerträume von Liebe, Freiheit und Sexualität. Das Besondere komme erst auf den zweiten Blick. Da entpuppt sich Anne Frank als präzise Beobachterin ihrer Zeit, die oft philosophisch, manchmal sogar witzig das Geschehen um sie herum dokumentiert.

„In unserer Ausstellung verknüpfen wir die Biografie Anne Franks und ihrer Familie mit dem geschichtlichen Kontext“, sagt Siegele. Die Zielgruppe des Zentrums, das 2014 20-jähriges Bestehen feierte, sind vor allem Kinder und Jugendliche – im Alter von Anne Frank. So werden direkte Auswirkungen der Geschichte auf das Schicksal der Familie Frank sichtbar. Abstrakte Geschehnisse wie die Novemberpogrome 1938 werden damit für die jugendlichen Besucher greifbar. Nach diesen nämlich flüchtet Annes Großmutter aus Angst vor den Nazis von Aachen nach Amsterdam.

Geschichte und Gegenwart

Persönliche Schicksale bleiben so erzählbar, auch wenn bald keine Zeitzeugen mehr am Leben sind, um ihre Erfahrung an nachkommende Generationen weiterzugeben. „Wir haben diese Situation schon immer gehabt, da die Hauptfigur der Geschichte gestorben ist“, sagt Siegele. „Wir konnten uns ihr nur über Tagebuch und Fotos nähern.“ Damit ist das Anne-Frank-Zentrum schon jetzt ein Beispiel dafür, wie auch dann sinnvoll an die Geschichte erinnert werden kann, wenn es keine Zeitzeugen mehr gibt, die persönlich berichten können.

„Gerade 70 Jahre danach ist es wichtig, Wissen über Nationalsozialismus und Holocaust zu vermitteln“, sagt Siegele, der bereits seit zehn Jahren im Zentrum arbeitet. Dabei müsse man sich nicht die Frage stellen, was Geschichte mit der Gegenwart zu tun habe, sondern vielmehr, was Gegenwart mit der Geschichte zu tun habe. Aktueller, speziell auf Israel bezogener Antisemitismus, bediene sich gerne falscher Vergleiche, etwa zwischen dem Nahost-Konflikt und dem Holocaust. „Um diesen Vergleich zu entkräften, muss man in die Geschichte schauen“, sagt Siegele.

Unwissen und Ressentiments

Trotz einer neuen „massiv antisemitischen Bewegung“ in Europa, die Siegele als große Gefahr empfindet, kann er bei seinen jugendlichen Besuchern keinen Anstieg antisemitischer Einstellungen erkennen. „Holocaustverleugnung erleben wir hier nie“, sagt er. Die Frage sei, ob man es wirklich mit einem Anstieg antisemitischer Ressentiments in der Gesamtbevölkerung zu tun habe, oder ob vermehrte Übergriffe auf Jüdinnen und Juden, etwa in Paris und Kopenhagen, nur von radikalen Gruppen getragen würden.

„In unserer Ausstellung haben wir nie mit Jugendlichen zu tun, die ein geschlossenes antisemitisches Weltbild haben“, sagt Siegele. Antisemitische Vorurteile hingegen gebe es schon – oder auch schlichtes Unwissen, das zeigt, wie tief manche Ressentiments sitzen. Ein Beispiel ist die Verwunderung mancher Schüler darüber, wie Anne Frank denn Deutsche gewesen sein kann, wenn sie doch Jüdin war.

"Wieso haben Nazis die Juden so gehasst?"

Sind Schüler mit Migrationshintergrund eher für antisemitische Vorurteile empfänglich? Auch das kann Siegele nicht bestätigen, im Gegenteil. „Es ist sogar so, dass Jugendliche mit Migrationshintergrund, etwa aus den Neuköllner Klassen, Parallelen zu ihrer eigenen Diskriminierungserfahrung sehen“, sagt er. Auf dieser Ebene können sie an die Lebensgeschichte der Anne Frank anknüpfen.

Anne Frank wurde verfolgt und ermordet, weil sie Jüdin war. Dennoch war ihre jüdische Identität nur ein Teil ihrer vielschichtigen Persönlichkeit. Eine der zentralen Botschaften des Zentrums lautet daher: Niemand kann auf nur einen Teil seiner Persönlichkeit reduziert werden.

Je nach Altersstufe nähern sich die Besucher der Geschichte Anne Franks auch ganz anders, hat Siegele festgestellt. Je jünger, desto näher sind sie dran an der Biografie und weiter weg vom abstrakten historischen Gesamtzusammenhang. Das liegt auch daran, dass im Anne-Frank-Zentrum schon Schüler der vierten Klasse zu Besuch sind – anders als in anderen Erinnerungsstätten. Bei den älteren Schülern gibt es Fragen, die immer wiederkehren und sich auch über Generationen hinweg nicht ändern. Eine davon ist: Wieso haben Nazis die Juden so gehasst?

Es liegt an der Mehrheitsgesellschaft

„Unsere wichtigste Botschaft ist: Es liegt nicht an den Jüdinnen und Juden, sondern an der Mehrheitsgesellschaft“, sagt Siegele. Heute lebten wir in einer ganz anderen Gesellschaft und in einem ganz anderen politischen System, in dem es Konsens sei, Antisemitismus zu verurteilen. Der Rechtsstaat sichere Opfern von Verfolgung Hilfe zu, sagt Siegele. „Das ,Nie wieder!‘ heißt für mich daher, dass wir nie wieder in einer Gesellschaft leben dürfen, in der so etwas möglich ist. Dazu kann jeder seinen Beitrag leisten.“ Oder um es in den Worten Anne Franks zu sagen: „... einmal werden wir doch wieder Menschen und nicht nur Juden sein.“

Anne-Frank-Zentrum, Rosenthaler Straße 39, 10178 Berlin. Öffnungszeiten:

Di.–So., 10–18 Uhr

Doku-Drama „Meine Tochter Anne Frank“, Mittwoch 18.2., 20.15 Uhr, ARD

Pascale Müller

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