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Hinrich Lühmann

© Tsp

Dokumentiert: "Unter jedem Grabstein liegt eine Weltgeschichte"

Die bewegende Rede des BVV-Vorstehers Hinrich Lühmann zum Volkstrauertag dokumentieren wir hier als Ergänzung zu unserem aktuellen Reinickendorf-Newsletter.

Meine Damen und Herren,

wir stehen hier inmitten eines großen Friedhofes. Hier ruhen 2356 Kriegsopfer – darunter über tausend Bombenopfer. Mit Heinrich Heine können wir sagen: „Unter jedem Grabstein liegt eine Weltgeschichte.“ Ja, sie sind Opfer der Weltgeschichte, Opfer des Krieges. Aber die Begriffe „Weltgeschichte“ und „Krieg“ verschleiern, dass nicht ein abstraktes Schicksal, sondern konkrete verbrecherische Politik die Ursache ihres gewaltsamen Sterbens war.

Die hier ruhen, sie vertreten für uns Millionen – Kinder, Erwachsene, Greise, die einst durch Krieg, Terror, Gewaltherrschaft oder Verfolgung aus dem Leben gerissen worden sind und auch heute, eben jetzt, gewaltsam sterben.

Der Volkstrauertag soll an sie erinnern. Er wurde vom Volksbund deutscher Kriegsgräberfürsorge als Gedenktag an die 10 Millionen Toten des 1. Weltkrieges angeregt. Dem ersten folgte ein zweiter Weltkrieg – noch schrecklicher, mit über 55 Millionen Toten. Ein dritter Weltkrieg ist uns erspart geblieben; bisher.

Aber wir erleben heute, dass ein Denken des vorigen Jahrhunderts, das wir nach den schlimmen europäischen Erfahrungen in Europa überwunden glaubten, in zu vielen Ländern wieder die Tagespolitik lenkt.

Ich meine den Irrglauben, dass die Bedeutung, die „Größe“ eines Landes und seiner Bewohner sich in der beherrschten Fläche ausdrückt; ich meine den Irrglauben, dass Verhandeln und Kompromiss-Suche Zeichen der Schwäche seien, dass Gewalt Fakten schaffen darf, dass notfalls Regeln nichts gelten.

Und ein Gespenst des finstersten Mittelalters erhebt sein Haupt: dass es erlaubt sei, im Namen eines Glaubens zu töten. Chauvinismus und Fanatismus sind die Pest der Menschheit.

Was wir dagegensetzen und Tag für Tag hochhalten müssen, das sind unsere Werte, jene, die aus der europäischen Aufklärung gewonnen und als Grundwerte in unserer Verfassung niedergelegt sind.

Wenn wir am Volkstrauertag der Kriegstoten und der Opfer von Gewaltherrschaft gedenken, tun wir dies, damit ihr Schicksal nicht vergessen wird, und damit das, was sie erleiden mussten, uns als Mahnung dienen kann, dass wir Chauvinismus und Fanatismus nicht zulassen dürfen, im Großen nicht und nicht im Kleinen; nicht im Alltag: Wir dürfen nicht gleichgültig sein, wenn vor unserer Tür Fanatiker Hass predigen, wir dürfen Rechtsradikalen und Hooligans keine Bühne geben. Und wir müssen und wir wollen einem Ungeist widerstehen, der unsere Mit-Menschen verächtlich macht, der die Sprache der Gewalt und nicht die Sprache der Versöhnung spricht.

So gedenken wir heute auch, um unseren tiefen Wunsch nach Frieden auszudrücken. Wir wollen die Hoffnung auf Versöhnung unter den Menschen und Völkern nicht aufgeben.

Wir gedenken heute der Soldaten, die in den Weltkriegen starben, der Menschen, die durch Kriegshandlungen oder danach in Gefangenschaft, als Zwangsarbeiter, als Vertriebene und Flüchtlinge ihr Leben verloren. Wir gedenken derer, die verfolgt und getötet wurden:

- weil sie einem anderen Volk angehörten,

- einer sogenannten Rasse zugerechnet wurden oder

- weil ihr Leben wegen einer Krankheit oder Behinderung als lebensunwert bezeichnet wurde

- weil sie Menschen ihres eigenen Geschlechtes liebten.

Wir gedenken derer, die ums Leben kamen, weil sie Widerstand gegen Gewaltherrschaft leisteten und derer, die den Tod fanden, weil sie an ihrer Überzeugung oder ihrem Glauben festhielten.

Wir trauern um die Opfer der Kriege und Bürgerkriege unserer Tage, um die Opfer von Terrorismus und politischer Verfolgung, um die Opfer sinnloser Gewalt, die bei uns Schutz suchten;

Und wir trauern auch um die mehr als hundert Bundeswehrsoldaten und anderen deutschen Einsatzkräfte, die in den letzten Jahren im Einsatz für den Frieden ihr Leben verloren haben.

Wir trauern mit allen, die Leid tragen um die Toten.

Meine sehr geehrten Damen und Herren, gedenken wir nun der Toten. Auch unserer Familienangehörigen, Freunde oder Kollegen, die aus dem Leben gerissen wurden und deren Verlust uns traurig macht. Verneigen wir uns in Trauer vor ihnen und bleiben wir ihnen verbunden in der dauerhaften Verpflichtung für Frieden, Freiheit, Demokratie und Menschlichkeit.

Der Wortlaut der Volkstrauertagsrede des Reinickendorfer BVV-Vorstehers Hinrich Lühmann an der Kriegsopfergedenkstätte am Freiheitsweg in Alt-Reinickendorf ist eine Ergänzung zum Newsletter "Tagesspiegel Leute Reinickendorf" von Gerd Appenzeller.

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