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Doris Nahawandi: "Die meisten sind integriert"

Die Beauftragte für Migration und Integration im Bezirk Friedrichshain- Kreuzberg, Doris Nahawandi, über Sprachunterricht, Zwangsheirat und Verwaltungs-Hindernisse.

Frau Nahawandi, was ist Ihre Zielsetzung als Beauftragte für Integration und Migration in Kreuzberg?

Ich wünsche mir, dass seitens der Mehrheitsgesellschaft anerkannt wird, dass wir eine Gesellschaft der Vielfalt sind und dass es vollkommen unerheblich ist, welcher Herkunft jemand ist. Die Zielsetzung ist demnach Wertschätzung aller gegenüber allen. Integration ist ein beidseitiger Prozess. Aber die Mehrheitsgesellschaft versucht in der Regel, sich aus der Verantwortung zu stehlen, indem sie die Problemdelegation an die Migranten durchführt.

Wenn einzelne der Mehrheitsgesellschaft sich engagieren möchten, was können die tun?

Ich würde dann erst einmal herausfinden, was sie denn tun möchten, und wofür sie sich engagieren möchten. Zum Beispiel: Wenn jemand im künstlerischen Bereich tätig ist, würde ich mir überlegen, ob es die Möglichkeit gibt, in bestimmten Projekten ein Angebot zu machen. Man muss immer gucken, was passt zu wem und was kann der- oder diejenige tun, wo gäbe es die Möglichkeit, das dann auch anzubieten? Im Übrigen gibt es noch viele andere Stellen, die auch mit Menschen mit Migrationshintergrund zu tun haben, ob das der Bereich Soziales ist oder der Bereich Jugend. Darüber hinaus haben wir auch öffentliche Gremien wie zum Beispiel den Runden Tisch für Demokratie, wo wir schon sehr breit einladen. Wenn jemand kommt und sagt er will mitmachen, dann bekommt der auch eine Einladung. Das sind dann ja auch genau solche Schritte, die wir dann auch unterstützen und gut finden.

Thema Sprachkompetenz: Wo besteht noch dringender Handlungsbedarf?

In der öffentlichen Diskussion wird immer wieder vermittelt, dass die Eltern ihre Kinder nicht genügend unterstützen. Also meine These ist erstens, dass dies ein Schicht-Problem ist und kein ethnisches. Und zweitens: Es wird gesagt, die Migranten und Migrantinnen seien diejenigen, die das Problem verursachen; ich glaube, dass es auch mit der Schulstruktur und dem Schulsystem zu tun hat.

Das kann ja sein, aber das war nicht die Antwort auf meine Frage. Also wer jetzt Schuld hat, lassen wir mal außen vor.

Wenn Sie das Sprachproblem lösen wollen, oder Verbesserungen herbeiführen wollen, dann müssen Sie sich ansehen, wie das Angebot jetzt ist. Ist es denn gut gemacht und geeignet? Muss ich etwas verändern, damit es besser wird? Und dann muss ich an dieses Schulsystem heran, weil die Schule und auch die Kitas die Instanzen sind, die Sprache vermitteln sollen.

Was würden Sie konkret verändern, wenn Sie könnten?

Ich plädiere ganz klar dafür, dass Migrantenkinder in ihrer Muttersprache unterrichtet werden. Es hat sich erwiesen, dass diejenigen, die ihre Muttersprache richtig beherrschen, auch eine Fremdsprache besser lernen. In den 90er Jahren war das Konsens, heute spricht man nicht mehr darüber. Darüber hinaus würde ich mir angucken, wieviele die Ausbildung haben, Deutsch als Zweitsprache (DaZ) zu unterrichten. Das ist schließlich ein eigenes Unterrichtsfach. Und dann müsste die Politik entscheiden, dass es zu wenige gibt, die dieses Fach unterrichten können. Wenn wir eine Verbesserung im Sprachbereich haben wollen, brauchen wir hierfür viel mehr qualifizierte Lehrer. Und das gleiche gilt für Kitas. Eine Kita-Erzieherin ist ja nicht per se dazu prädestiniert, auch noch Sprachvermittlung zu betreiben. Auch da gibt es mittlerweile Ansätze verschiedener Konzeption, aber das ist alles noch in den Anfängen, das gibt es nicht flächendeckend.

Sind Sie denn generell mit dem Ausbildungsstand der Lehrer bzw. Erzieher zufrieden?

Da bin ich keine Expertin, da maße ich mir kein Urteil an. Die Frage ist für mich: Die Kinder sind nicht alle dümmer geworden im Laufe der Zeit, aber die Abschlüsse werden immer schlechter. Also ist die Frage, woran liegt es? Und da glaube ich, unabhängig von der Qualifikation und dem Engagement der Einzelnen, dass der Grund ein Systemfehler ist.

Wo genau sehen Sie diesen Fehler?

In den 70ern hatten wir bereits 60 % Schüler nichtdeutscher Herkunftssprache in Kreuzberg. Jetzt reden wir 20, 25 Jahre später über 80 - 90 Prozent, aber in diesen 25 Jahren hat sich strukturell nichts geändert. Es gibt keine großartig anderen Lehrpläne, es gibt nach wie vor den Frontalunterricht, es gibt in den Schulbüchern weiterhin keinen Bereich Migrationsgeschichte, und Ufuk und Selma anstatt Tim und Ute kommen auch nicht vor. Die Kinder sind im Grunde genommen in der Schule in einer Welt, die ihre reale Welt nicht darstellt. Überall um sie herum gibt es ganz viele Menschen mit Migrationshintergrund, aber die Schule spiegelt das überhaupt nicht wieder - weder im Personal noch in den Lehrmaterialien. Das ist schon ein sehr großes Defizit. Es gibt zwar mittlerweile durch die Schulverwaltung einige Schritte, um das zu ändern, aber es wird noch eine Weile dauern, bis das greift.

Von welchen Stellen oder von wem wünschen Sie sich mehr Kooperation?

Das kann ich jetzt so generell nicht sagen. Es gibt da allerdings Fälle: Zum Beispiel der Schulbereich. Dadurch, dass wir in diesem Bereich keine Kompetenz haben, ist es von der Logik her so, dass wir es von der Außenstelle Schulamt genehmigen lassen müssen, wenn wir z.B. in einer Schule eine Vorhaben durchführen möchten. Das ist natürlich ziemlich hinderlich.

Also ein verwaltungstechnisches Problem.

Ja, das ist im Grunde genommen eine strukturell bedingte Kooperationsverhinderungsstrategie. Andererseits kann ich mich für meinen Bezirk nicht über mangelnde Kooperationsbereitschaft beklagen - auch von "schwierigen" Stellen, wie z.B. der Polizei. Im Gegenteil, wir sind da sehr eng in Kontakt. Das hat sicherlich damit zu tun, dass man über Jahre hinweg an diesen Themen gearbeitet hat und so eine gute gemeinsame Basis geschaffen hat.

Werden die von der Bundesebene verordneten Integrationskurse gut aufgenommen, und woraus bestehen sie?

Diese Kurse sind im Zuwanderungsgesetz für Neuzuwanderer zwingend vorgeschrieben, für Bestandsausländer - also solche, die schon länger hier leben - sind sie freiwillig. Die Kurse umfassen 600 Stunden Sprachkurs und 30 Stunden Orientierung. Im Rahmen der Orientierung ist zum Beispiel Staatsbürgerkunde vorgesehen. Die hohe Belegungsquote der Kurse, gerade von den sogenannten Bestandsausländern, zeigt, dass es ein großes Interesse gibt, die Sprache zu lernen. Für Bestandsausländer sind die Kurse nicht zwingend vorgesehen, es sei denn, das Jobcenter verpflichtet sie dazu. Tatsächlich ist die Nachfrage größer als das Platzangebot. Das Interessante daran ist, dass es viel weniger Neuankömmlinge gibt als man gedacht hat, und deswegen können jetzt glücklicherweise die Bestandsausländer das Kursangebot wahrnehmen.

Gerade hat sich der Mord an Hatun Sürücü gejährt. Was hat sich in dem Jahr getan?

Doch erstaunlich viel. Häusliche Gewalt ist ja generell ein Tabu-Thema, kein Thema, über das man gerne spricht. Im Vergleich zu früher gibt es jetzt eine weitaus offenere Diskussion zu Zwangsverheiratung und häuslicher Gewalt in den Communities. Die türkische Zeitung "Hürriyet" hat eine bundesweite Kampagne gegen Gewalt gestartet, was eine Art Bekenntnis ist, dass dieses Problem existiert. Es ist nicht mehr nur ein feministisches Thema, und der Handlungsbedarf wird gesehen. Und das ist schon ein ziemlicher Fortschritt. Betroffene Migranten und Migrantinnen, die sowieso schon immer die Erfahrung machen, dass sie ein negatives Image haben, sind bisher immer zurückgeschreckt, ihre Probleme an die Öffentlichkeit zu tragen - aus der Angst heraus, dass ihr Image noch schlechter wird, also dass sie praktisch noch angreifbarer werden. Aber mittlerweile ist weitaus mehr Bewußtsein vorhanden. Sie akzeptieren ihre Verantwortung in der Gesellschaft und müssen sich dann natürlich auch dazu verbal äußern. Diese Erkenntnis hat sich schon bei vielen durchgesetzt.

Sie schreiben in Ihrem Thesenpapier zur Entwicklung von Diversity-Leitlinien für den Bezirk: "Die Erfahrung zeigt, dass es zwar jede Menge Angebote gibt, nur diejenigen, die sie nutzen sollten, wissen häufig nichts davon." Was tun Sie dagegen?

Ich alleine kann da wenig tun, das ist klar. Aber wann immer ich involviert bin, kümmere ich mich um eine angemessene Informationsweitergabe. Die Senatsverwaltung für Stadtentwicklung zum Beispiel hat auch diese Erfahrung gemacht, und zahlt deswegen jetzt Menschen Honorare, die von Tür zu Tür gehen und die Informationen öffentlich machen, die dann zum Beispiel sagen: "In der Schule XY findet für Mütter ein Deutschkurs statt." Die Erfahrung zeigt, dass viele Addressaten Aushänge nicht lesen, aber durch diese mündliche Übermittlung dann durchaus die Angebote wahrnehmen. Das ist natürlich wahnsinnig aufwendig, aber es nützt ja niemandem, wenn man teure Angebote macht und keiner geht hin. Es gibt auch mittlerweile eine kritischere Selbstreflexion. Denn diejenigen, die Angebote konzipieren, sind in der Regel Mittelschichtsangehörige und aus deren "Mittelschichtsdenken" heraus sind dann auch die Angebote mittelschichtsorientiert. Und das bringt natürlich den Menschen aus der Unterschicht nichts. Aus mehreren Gründen: Weil die Kommunikationsform anders ist, weil es nicht deren Bedürfnisse trifft, oder weil es vor allem dort angeboten wird, wo die Addressaten nie hinkommen. Da müssen wir umdenken. Und das passiert auch. Es ist mühselig und es ist sehr, sehr kleinteilig, aber es gibt schon erste Erfolge.

Was machen Sie denn eigentlich mit den vielen jungen Leuten ohne oder mit schlechtem Abschluss, mit schlechtem Deutsch, ohne Arbeit? Was passiert mit denen, die nichts mit sich anzufangen wissen und ihre Zeit auf der Straße zubringen? Kommen Sie an die heran?

Nun, ich selbst jetzt weniger. Aber durch Hartz IV und die Vorgaben vom ALG II ist es so, dass die natürlich auch verpflichtet werden können, zum Sprachkurs oder zu Qualifizierungsmaßnahmen, wenn die Maschinerie jetzt langsam richtig in Gang kommt. Darüber hinaus sind die Jugendfreizeiteinrichtungen im Bezirk auch Anlaufstelle. Allerdings ist es gerade in einer ökonomisch und damit einhergehend beschäftigungsschwachen Stadt wie Berlin so, dass es für diese Personengruppe sehr schwierig ist, Perspektiven zu entwickeln.

Was würde aus ihrer Sicht die Integration von Migranten in Deutschland fördern?

Ich finde, das ist eine vollkommen widersinnige Debatte. Die meisten sind integriert. Es fallen nur diejenigen auf, die eben aufgrund ihrer Herkunft und Schichtzugehörigkeit nicht die gleichen Chancen haben wir andere. Übrigens ganz unabhängig davon, wo sie nun herkommen. Und ich glaube, dass auch der Großteil der Menschen mit Migrantionshintergrund die demokratischen Grundordnung und demokratischen Werte schätzt, gerade im Vergleich zu den Herkunftsländern. Mein Plädoyer wäre eher, dass die Mehrheitsgesellschaft und vor allem Politik im Rahmen der Mehrheitsgesellschaft auch die klare Ansage macht, "Wir sind eine Gesellschaft der Vielfalt und wir wollen euch dabei haben; ihr gehört dazu." Und die aktuellen Debatten zeigen einmal mehr, dass diese Zeichen nicht kommen. Was es den Menschen mit Migrationshintergrund auch wirklich schwer macht, weil sie immer wieder aufs Neue das Gefühl vermittelt bekommen, sie seien nicht erwünscht. Und so jemand kann sich nur schwer mit Leib und Seele identifizieren. Wenn Sie immer wieder in ihrem Leben darauf hingewiesen werden, dass Sie als anders betrachtet werden, weil sie vermeintlich anders aussehen, und dieser Unterschied wird aber nur bei ihnen gemacht, weil sie eben eine dunklere Haut haben, dann ist es unglaublich schwierig, sich als selbstverständlichen Bestandteil dieser Gesellschaft zu betrachten. Ein klassisches Beispiel dafür, dass dieser Unterschied in den Köpfen gemacht wird, wäre die Aussage: "Sie sprechen aber gut Deutsch".

Das heisst, Sie als Integrationsbeauftragte sind eigentlich gar nicht für die Migranten da, sondern für die Mehrheitsgesellschaft.

Änderungsbedarf ist vorhanden. Ich möchte da nichts hochschaukeln: Die Leute meinen das nicht böse. Aber gerade bei Kindern machen sie da unglaublich viel kaputt. Ein Beispiel: Eine Lehrerin in der Grundschule sagt, die Kinder sollen Flaggen malen. Ein Migrantenkind fängt an die deutsche Flagge zu malen, und die Lehrerin sagt: "Das ist nicht deine Flagge." Dieses Kind, das ja überhaupt noch nicht so weit denkt, versteht natürlich nicht, warum die deutsche Flagge nicht seine Flagge ist. Solcher Art werden diese Unterschiede geprägt. Und ich glaube, das ist fatal. Dann muss man sich auch nicht wundern, dass immer mehr Menschen abdriften oder sich in die Religion flüchten.

Vielen Dank für das Gespräch.

Das Interview führte Sarah Burmester ()

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