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Berlin: Dornröschen aus dem Regenwald

Die 21. Märchentage verwandeln Berlin und Brandenburg in eine Wunderwelt Bei den 730 Veranstaltungen stehen Geschichten aus Lateinamerika im Mittelpunkt

So vergnügt, wie es einem die Gebrüder Grimm weismachen wollen, lebten Dornröschen und ihr Prinz gar nicht bis ans Lebensende. Denn kaum zieht der Prinz nach der Hochzeit in den Krieg, will die böse Stiefmutter, eine üble Menschenfresserin, über seine beiden Kinder herfallen. Gut, dass der Koch Schlimmeres verhindern kann. So jedenfalls heißt es in einer anderen Version des Märchens, die in Lateinamerika erzählt wird.

Nicht alle Märchen von dort kommen einem so bekannt vor. Unter dem Motto „Vom Rio Grande bis nach Feuerland“ führen die 21. Berliner Märchentage die Besucher seit Donnerstag zu argentinischen Gauchos, durch den Regenwald, über die Anden, auf die Spuren der Schokolade, zu den Maya-Stämmen und Schätzen der Inkas, zu Jaguarmännern und Riesen mit Schlangenkopf. Tiere wie die gefiederte Schlange und Gottheit Quetzalcoatl spielen eine bedeutende Rolle, sagt Silke Fischer vom Verein Märchenland. Sie organisiert die Märchentage, die mit 120 000 erwarteten Besuchern und 730 Veranstaltungen in Berlin und Brandenburg bis zum 21. November das größte Märchenfestival der Welt sind. Und weil in diesem Jahr Mexiko und Kolumbien 200 Jahre Unabhängigkeit feiern, dreht sich alles um Märchen und Geschichten aus Lateinamerika.

Die Märchen sind ein bunter Mix aus ursprünglichen Legenden und Mythen, Einflüssen von schwarzen Sklaven, spanischen Konquistadoren und europäischen Einwanderern. Letztere brachten gleich die Sammlung der Gebrüder Grimm mit, manche Märchen wie Rotkäppchen wurden einfach übernommen. „Eines haben Märchen aber überall auf der Welt gemeinsam: Sie erzählen dieselben Wünsche und Träume“, sagt Fischer, die über europäische Märchen und brasilianische Kinderliteratur promovierte. In Lateinamerika hätten die Geschichten auch heutzutage einen hohen Stellenwert, weil sie noch nicht vom Wohlstand verdrängt worden seien.

Am Donnerstagabend verlieh der Verein Märchenland den Preis „Goldene Erbse“ für kulturelles und soziales Engagement. Preisträgerinnen sind Stephanie zu Guttenberg, die gegen Kindesmissbrauch kämpft, Iris Berben, die sich gegen Antisemitismus einsetzt, und Marion Horn, Vorstandsvorsitzende von „Ein Herz für Kinder“.

Bei den Märchentagen verwandeln sich diplomatische Vertretungen, Künstlerateliers, Bibliotheken und Kirchen in kleine Wunderländer. Prominente wie Sängerin Kim Fisher oder Schauspielerin Nadine Krüger lesen in Schulen vor, ganze Schulklassen lauschen in Botschaften den Märchen des jeweiligen Landes. Einige Veranstaltungen werden auch in spanischer Sprache angeboten.

Am Donnerstagmorgen hatte Aura Bolaños de Aguilera, Frau des Botschafters von Guatemala, Kinder der Thomas- Mann-Grundschule und der Uhlenhorst-Schule in die Vertretung des Landes nach Moabit eingeladen. Dort las die Diplomatengattin das Märchen „Maria Maya und der Kolibri“ vor, eine Geschichte, die an den „Froschkönig“ erinnert: Dem 13-jährigen Maya-Mädchen Maria wird vom strengen Vater verboten, sich auf Jungen einzulassen. Die begnadete Weberin erzählt einer Puppe von dem Problem. Am nächsten Tag kommt ein Kolibri angeflogen und verwandelt sich, ganz ohne Kuss, in einen netten Jungen, der wieder davonflattert, wenn der Vater auftaucht.

„Unsere Märchen erzählen vom alltäglichen Leben in den Dörfern und Städten und der alten Maya-Kultur“, sagt de Aguilera, die früher in der Schule auch die Grimmschen Geschichten gelesen hatte. Weil die Menschen vor allem auf dem Land lange Zeit weder lesen noch schreiben konnten, wurden die meisten Märchen noch bis Mitte des vergangenen Jahrhunderts nur mündlich überliefert. Das war ja in Deutschland auch so. Bis die Gebrüder Grimm auftauchten.

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