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Georgen-Parochial-Friedhof IV an der Boxhagener Straße in Berlin-Friedrichshain.

© Doris Spiekermann-Klaas

Ehrenfried Heintz (Geb. 1931): Er gab immer allen und allen gleich viel

„Mach doch auch mal Wochenende“, sagten sie. „Nein, nein, so ist es recht“, sagte er. Der Nachruf auf ein

Manchmal steht das Eichhörnchen schon an der Balkontür. Steht da und schaut auf den alten Mann, wie er noch im Bett liegt und schläft, wie er wach wird, in die Küche geht und mit Körnern wiederkehrt. Gleich wird er rauskommen, das Futter auf einem Brett drapieren und sich auf den Stuhl daneben setzen. Das Spektakel kann beginnen: Amseln, Meisen und Spatzen, die im Sturzflug herandüsen. Das ist ein Gezeter und Getschiepe, herrlich.

So macht es der alte Mann, Morgen für Morgen, Tag für Tag. Seine Frau hat immer gesagt: Du und deine Vögel, was für einen Dreck die machen. Er darauf: Lass mich doch.

Der alte Mann heißt Ehrenfried und dieser Balkon ist sein Paradies. Er lässt seinen Blick wandern, hinüber zu dem Garten, um den er sich jahrzehntelang gekümmert hatte. Das war die Bedingung, damals 1972: Sie dürfen einziehen, wenn sie hier anpacken. Als die Familie das erste Mal durch die vier Zimmer ging, konnten sie es gar nicht fassen, so viel Platz!

Sein Blick bleibt am großen Wasserturm hängen. In dessen Schatten liegt seine Frau begraben. Seine Ruth, die er als Jugendlicher kennen lernte. 16 waren sie, vielleicht 17. Er versprach ihr, sie zu beschützen, bis zuletzt. Als sie todkrank auf der Couch lag, ihr Bett war ihr in der Nacht immer zu hart geworden, dann setzte er sich eben neben sie. Wenn sie sagte: „Geh wieder schlafen“, sagte er: „Ich kann dich doch nicht alleine lassen.“

Er war neun, als es bei ihm passierte

Wer damals, kurz nach dem Krieg, den ersten Kuss gab, wer zuerst „Ich liebe dich“ sagte, das ist nicht überliefert. Neben dem Verliebtsein verband die beiden aber auch ein Schicksal: Ihre Väter waren tot und ihre Mütter mit sich und der harten Zeit beschäftigt.

Ehrenfried war neun, als es bei ihm passierte. Er erinnert sich noch, wie er am Tag zuvor auf dem Schoß seines Vaters saß und mit ihm Bratkartoffeln aß, wie der Vater auf einmal sagte: „Wenn ich einmal sterben sollte, muss du dich um Mama kümmern. Versprichst du das?“

Die Familie lebte in Thüringen, mitten im Wald, mitten in den Bergen, am Rande des Örtchens Allzunah. Hier hatten die Großeltern ein Gasthaus, hier wohnten alle unter einem Dach zusammen, hier hieß er Ehrenfriedchen und fuhr im Winter auf Skiern in die Schule. Der Vater arbeitete erst als Glasbläser, wie viele in der Familie, dann wurde er Fuhrunternehmer mit Pferden und Kutsche. Ein Arbeitsweg, den Ehrenfried später wiederholen sollte, erst blies er medizinische Spezialgeräte aus Glas, dann fuhr er 25 Jahre lang Bier und Limonade aus. Aber noch war Ehrenfried ein Bub, saß am liebsten unter der großen knorrigen Buche und schaute in die Ferne. Und dann passierte es: Die Tür schlug auf, herein trugen sie den Vater, ein Bus hatte im Dunklen den Pferdekarren gerammt und seine Beine abgerissen. Der Vater lag da und verblutete.

Großvater gibt immer allen gleich viel

1940 war das. Die Mutter, alleine mit Ehrenfried und seinen beiden Brüdern, verließ das Dorf und ging zurück nach Berlin. Der Krieg rollte heran, und es war keine Zeit für Trauer. Kaum in der Stadt angekommen, kaum eingelebt, musste der Zehnjährige auf Kinderlandverschickung ins Sudetenland. Er hatte Glück, seine Gastfamilie nahm ihn auf wie einen zweiten Sohn. Eine Bevorzugung des leiblichen Kindes gab es nicht, beide bekamen die gleichen Geschenke. Das machte Eindruck auf Ehrenfried, diese Großzügigkeit, so wollte er auch werden, und so wurde er auch. Sein Enkel sagte später über ihn: Großvater gibt immer allen und allen gleich viel. Aufmerksamkeiten, Zeit und Liebe. Wem er alles beim Renovieren half, wem er alles zuhörte, oder wen er ständig herumfuhr. „Nun mach doch auch mal Wochenende“, sagten sie. „Nein, nein, so ist es recht“, sagte er. Einmal gewannen er und seine Frau 5000 Mark im Lotto. Sie bezahlten der Schwägerin drei Monatsmieten, halfen Freunden aus, dann war das Geld weg. Wenn er seine Frau von ihrer Arbeit im Laden abholte, hatte er Blumen dabei für sie und ihre Kolleginnen.

Der Krieg war zu Ende, und Ehrenfried, kurz vor der Abschlussprüfung zum Glasbläser, suchte zum ersten Mal nach Arbeit. In seinem Lebenslauf schrieb er: „Ich hoffe mit dem erlernten Wissen meine Prüfung als Apparatebläser zu bestehen, wodurch mir dann die Möglichkeit gegeben wäre, meine Mutter, die keinerlei Rente bezieht, in ihrem schweren Daseinskampf nach Kräften zu unterstützen.“

Das hätte die Familie zerbrechen können

Eine Liebe, eine Tochter, eine Heirat, die Familie zog in eine klitzekleine feuchte Kellerwohnung am Kreuzberger Mariannenplatz. Ehrenfried fand in Berlin nur Hilfsjobs auf dem Bau und gelangte dann in eine Glashütte im Taunus. Seine Familie durfte er nicht nachholen, also kehrte er wieder heim. In diesem Frust, so jung, so verantwortlich, wurde er polterig. Laut und auch ungerecht konnte er dann werden. Statt seiner Tochter zu sagen: Ich mache mir Sorgen um dich, schnauzte er sie an.

Damals hätte es die Familie zerbrechen können. Doch dann geschah etwas, das, so sah er es, allein auf Gottes Willen zurückzuführen war. Ehrenfried landete eines Sonntags in einem Gottesdienst der Apostolischen Gemeinde. Der Prediger, auch ein Polterer, sprach etwas in ihm an, eröffnete ihm eine neue Welt und veränderte sein Leben mit einem Schlag. Er trat in die Gemeinde ein, sang im Männerchor und wurde selbst ehrenamtlicher Seelsorger. Das Zwiegespräch mit Gott half ihm durchs Leben, half, den Tod seiner Frau zu verkraften. Und es lässt ihn schließlich selber gehen, zufrieden und mit sich im Reinen. Nun liegt er zusammen mit Ruth im Schatten des alten Wasserturms in Steglitz.

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