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Berlin: Eifersüchtige Metropole

Pascale Hugues wundert sich, warum es wichtig ist, ob der Regierende Bürgermeister aus Berlin stammt

Pascale Hugues wundert sich, warum es wichtig ist, ob der Regierende Bürgermeister aus Berlin stammt Berlin ist eine große Stadt, und sie ist eifersüchtig. Wehe, es wagt jemand, in Hörweite der deutschen Hauptstadt die Schöne hinter den sieben Bergen zu preisen! Berlin hat seinem Verehrer Frank Steffel niemals verziehen, dass er mitten im Berliner Wahlkampf 2001 erklärt hat, München sei die schönste deutsche Stadt. Berlin hat ein gutes Gedächtnis, und es könnte durchaus den armen Friedbert Pflüger abweisen, der sich doch so bemüht, einen klitzekleinen Seitensprung vergessen zu machen. Mitten in der großen Bonn-Berlin-Debatte am 19. Juni 1991, ließ der Abgeordnete sich in Bonn zu dem Geständnis hinreißen: „Ich bin für Bonn, aber nicht gegen Berlin.“ Bis heute trägt Berlin ihm das nach. Und jetzt, wenige Wochen vor der Wahl, begeht er erneut Verrat: „Meine Heimatstadt ist Hannover und das halte ich für hoch und heilig!“ Sehr verdächtig, dieser ungebetene Gast aus Niedersachsen, der jahrelang Washington, London und Athen hofiert hat, ohne Britz und Pankow auch nur den kleinsten Blick zu schenken.

Dagegen hat das Landeskind Klaus Wowereit alle Trümpfe in der Hand. Das Abitur hat er in Lichtenrade gemacht. Jura hat er in Dahlem studiert. Berlin liebt die Berliner Jungs. Klaus Wowereit weiß die strategisch günstigen Momente zu nutzen. Er erzählt seinen Anhängern Insidergeschichten, die nur alteingesessene Berliner verstehen. Doch werden die Berliner fast misstrauisch, wenn ihr Wowi sich auf den Wahlplakaten zum grauhaarigen Staatsmann aufplustert, den Blick auf einen Kosmos außerhalb Berlins gerichtet. Die Berliner wollen einen Bürgermeister, der so ist wie sie: direkt, keck, ohne Fisimatenten ... und auf sympathische Art provinziell.

Wen kümmert es in Paris, dass Bertrand Delanoë, Bürgermeister der französischen Kapitale, weit entfernt vom französischen Mutterland geboren ist, in Tunis, heute Hauptstadt des unabhängigen Tunesien? Wer stört sich daran, dass New Yorks Oberhaupt Michael Bloomberg aus Boston stammt? Der Bürgermeister von Warschau ist in Gorzow Wielkopolski geboren und hat in Wroclaw studiert. Dass Ken Livingstone, Bürgermeister von London, in Lambeth im Großraum London das Licht der Welt erblickt hat, ist eher dem Zufall als der Wahlstrategie zuzuschreiben. Andere Metropolen haben einen weiteren Horizont als Berlin.

Doch was ist das für eine Hauptstadt, die den andernorts Geborenen so wenig über den Weg traut? Ein Paradox, denn fast alle Berliner kommen schließlich von außerhalb: aus Schlesien und Pommern, aus Anatolien und Apulien, aus Bonn und Brandenburg. Seit dem Fall der Mauer hat Berlin eine richtig gehende demographische Häutung erlebt. Jeder dritte Berliner (darunter Friedbert Pflüger und eine Million andere) ist nach 1989 in die Stadt gezogen. Jeder sucht sein Glück in dieser neuen Metropole, wo noch alles möglich ist. Die jungen Deutschen strömen aus allen Gegenden des Landes in diese Stadt, die ihnen passt wie ein Handschuh. Sie fliehen vor den astronomischen Mieten Münchens, der provinziellen Langeweile Hannovers, den allzu geleckten Straßen Düsseldorfs, der kultivierten Kälte Hamburgs. Zu mäßigen Preisen offeriert Berlin den berauschenden Duft des Abenteuers, den das adrette und in seinen Komfort vergrabene Deutschland schon lange verloren hat.

„Berlin ist nicht Deutschland“, sagen die ebenfalls faszinierten Franzosen. Nach den Polen bilden die Franzosen in Berlin die größte Gruppe von Zuzüglern. Als Antwort auf die große Nachfrage wurden zwei neue deutsch-französische Schulen gegründet. In den Straßen von Mitte spricht man Französisch, Spanisch, Englisch. Nach London und Paris ist Berlin die Stadt mit den meisten Besuchern. Es ist ein echter Schmelztiegel, aber sein Bürgermeister soll bitte schön aus einer alteingesessenen Berliner Familie stammen. Und ich hatte an die goldene alte Regel geglaubt: Berliner ist, wer seit mehr als fünf Jahren in dieser Stadt lebt.

Pascale Hugues ist Redakteurin des französischen Magazins Le Point und Kolumnistin des Tagesspiegels. Aus dem Französischen von Elisabeth Thielicke.

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