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Berlin: Ein beispiellos schöner Frühling

Wie der Dichter Wassili Subbotin, damals sowjetischer Frontkorrespondent, das Kriegsende beschreibt

Sein Buch nannte Wassili Subbotin „Wie Kriege enden“. Für ihn selbst endete der Krieg so: „Zehn Tage hatten wir nicht geschlafen. Zehn Tage und Nächte. Wir fielen über unsere eigenen Beine. Nur die Spannung hielt uns aufrecht und manchmal der Schnaps. Wir hatten uns durch versperrte Straßen vorgekämpft, von Haus zu Haus. Unsere Uniformen rochen nach Rauch, waren schmutzig, mit Ziegel- und Kalkstaub bedeckt. Als dann am 2. Mai Berlin kapitulierte, gingen wir keinen Schritt mehr, nicht einmal bis zum Brandenburger Tor. Wir schliefen! Alle schliefen – Soldaten und Kommandeure. Gleich neben dem Reichstag. Auf dem Platz. Kopf an Kopf. “

Der Mann aus dem Ural, der heute in Moskau lebt, war 20 Jahre alt, als 1941 der Krieg begann. Er war vom ersten Tage an dabei. 1945 beschreibt er als Frontkorrespondent das Ende: „Am Morgen des 2. Mai fiel in Berlin kein Schuss mehr. Nur aus den Trümmern stieg Rauch, und der Frühlingswind spielte mit der erkalteten Asche. Es war ein neues Gefühl: Leben ohne Krieg.“ Dann feiern die Sieger: „Die Flak feuert, Geschütze donnern. Unzählige Leuchtkugeln stehen wie aufgereiht über den Dächern und sinken verlöschend herab. Das ist der Salut, der Siegessalut in Berlin... Wie hat sich plötzlich alles verändert! Man kann an die Zukunft denken, man kann Pläne schmieden. Tags zuvor konnten wir das noch nicht. Wir sehen die Welt mit anderen Augen. Wir sehen die Bäume, mit den Händen berühren wir die rauhe Borke. Tief atmen wir die Luft, die so rein ist wie nach einem Gewitter. Wie herrlich es ist. Ich möchte Hände und Gesicht in das weiche, lebendige Gras tauchen oder die Stiefel ausziehen, um die Erde zu spüren. Keine Schüsse, keine Explosionen. Ungewöhnlich, aber gut.“

60 Jahre sind seitdem vergangen. Aus dem Frontkorrespondenten wurde ein bekannter Lyriker und Romancier mit über 50 Büchern, zwei Bände seiner Kriegsprosa sind gerade erschienen. „Ich würde gern noch einmal die wiedererstandene und wiedervereinigte Stadt sehen und das vereinigte Volk erleben“, sagt der Lyriker. Seine Enkeltochter schickt uns Fotos, die Subbotin am Reichstag zeigen, damals, am 2. Mai. „Ich bin bald 85, aber gern würde ich noch einmal all das sehen, was für mich unvergesslich ist: Unter den Linden, Brandenburger Tor, Königsplatz und, natürlich, den Reichstag. Alles, was in den letzten beiden Kriegstagen und Nächten im Mai 45 geschah, ist mir mein ganzes Leben bis heute in Erinnerung geblieben.“

Der Mann, der Vater, Bruder und Cousin im Krieg verloren hat, erzählt eine unheldische Episode vom ersten Tag des Friedens: „Viele Fliederbäume wuchsen in Berlin. In verwilderten Anlagen, neben Ruinen. Und in diesem Frühling schien er besonders üppig zu blühen. Sein Duft war so stark, dass er alle anderen Gerüche erstickte. Sogar den Leichengeruch. Flieder in der Stadt. Unwahrscheinlich schöner Flieder. Ein beispiellos schöner Frühling! Soldaten, Männer, die sich aufs Schießen verstanden, gingen durch die Stadt und hielten Flieder in den Händen. Und der Duft des Flieders erregte uns; er erschien uns so unwirklich und doch so bedeutungsvoll, weil sich der Brandgeruch in den Straßen noch nicht verzogen hatte. Wir waren wie trunken.“ Das Brandenburger Tor machte einen merkwürdigen Eindruck: „Die breiten Durchfahrten zwischen den Säulen waren mit Ziegeln verstopft, nur die schmalen Durchgänge an den Seiten waren passierbar. Irgendwie wirkte das Tor schief. Das mochte daher kommen, dass viele Granaten in das Mauerwerk eingeschlagen waren und Gesteinsbrocken herausgerissen hatten. Es begann zu regnen, obwohl der Himmel über mir noch blau war. Mairegen! Große Tropfen platschten auf die Erde.“

Später geht der Chronist dahin, wo alles ausgeheckt wurde, ins Arbeitszimmer von Hitler: „ Ein Teil der Decke war eingestürzt. Durch das Loch schien die Sonne. Den Fußboden bedeckten Möbel, Papier, Steine und viel Staub. Das Zimmer war sehr groß, einem Saal ähnlich. In den Schränken an den Wänden lagen Bücher. Der Schreibtisch nahm viel Platz ein. Eine Tür führte in einen Park. Die Bäume waren, wie so viele Bäume in Berlin, geborsten, umgestürzt, zersplittert. . . Als wir die Trümmerstätte verließen, sahen wir auf der Straße eine große Gruppe Menschen. Ein Pferd war krepiert, und hungrige Berliner stürzten sich auf das Fleisch.“

„Gitler kaput“ steht überall an den Wänden. „Noch benommen vom Kampf gehen wir durch Berlin. Obwohl die Brände erloschen sind, misstrauen wir der Stille. Am Reichstag befindet sich ein Brettchen mit der Aufschrift „Entmint“. Seit Warschau tauchen diese Täfelchen auf. Und nun endlich auch am Reichstag. Entmint. Es wirkt wie ein Punkt.“ “

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