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Blick zurück. Die Ausstellung zum Stadtjubiläum an der Marienkirche. Foto: dpa

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Berlin: Ein halbes Jahrhundert verpasst

Die 775-Jahrfeier kommt 50 Jahre zu spät, denn Ausgrabungen in Mitte beweisen, dass die Stadt viel älter ist.

Regula Lüscher, die Senatsbaudirektorin, steht neben einer schlammigen Pfütze, davor türmt sich fünf Meter hoch der gelbe märkische Sand, den ein Bagger aus dem Erdreich geholt hat. Links davon: freigelegte Ziegel, ein Kellerfundament, Mauern, ein Brunnenschacht, sogar ein Skelett. Das war, erfährt man, einstmals ein Schwein. Es muss älter sein als Berlin, aber Regula Lüscher hat eine ganz andere Überraschung. Sie hält ein kleines Päckchen in der Hand, ein in Folie verpacktes Etwas, triumphierend hält sie es hoch und sagt: „Also, Sie glauben ja gar nicht, wie sehr ich mich über dieses Stück verkohltes Holz freue! Es ist ein weiterer Mosaikstein zum Bild, das wir vom Leben unserer Vorfahren haben.“

Das Holz, vielleicht ein Kilo schwer, erzählt uns, dass an dieser Stelle an der Kreuzung Stralauer Straße / Klosterstraße das älteste Haus stand, das Berlin zu bieten hat. Welch ein Segen just in dem Moment, wo die Ausstellungen zum 775. Stadtjubiläum eröffnet werden. Seit Anfang Juli graben sich die Archäologen in ein Grundstück, auf dem der Bauherr KapHag bis Ende 2014 vor der benachbarten Niederländischen Botschaft ein Hotel errichten will. Die Reste des Gebäudes waren unter Mauern von Bauten aus dem 18. Jahrhundert erhalten geblieben. Es muss wohl der Stallteil eines größeren Fachwerkhauses gewesen sein. Der Stall brannte ab, sogar das Skelett eines dort gehaltenen Schweins kam ans Tageslicht. Aus einem Eckbalken des Stalls wurde ein Holz geborgen, das sofort ins Deutsche Archäologische Institut gebracht wurde. Dort datierten die Fachleute nach ihrer dendrochronologischen Untersuchung das Alter auf das Jahr 1174. In diesem Jahr wurde das Holz gefällt und zum Hausbau verwendet. Die Besiedelung der mittelalterlichen Doppelstadt Berlin-Cölln begann also in der Nähe des Spreeübergangs am Mühlendamm. An der aktuellen Fundstelle lag einst Berlin. Auch in Cölln, nebenan, erzählt ein Kellerfund eine Geschichte: Das Holz vom ältesten Haus an der Breiten Straße wird auf das Jahr 1171 datiert. Grabungsleiter René Bräunig zeigt in einer kleinen Ausstellung, dass unterhalb der mittelalterlichen Reste weit ältere menschliche Hinterlassenschaften geborgen wurden, Feuersteingeräte, Keramikfragmente, Abfallgruben der späten Jung- und Mittelsteinzeit (ca. 9500 bis 5000 v. Chr.), ebenso wie slawische Keramikfragmente des 10. und 11. Jahrhunderts. „Vor zehn Jahren hatten wir all diese Daten noch nicht, die Technik zur Ermittlung ist sensationell besser geworden“, sagt Landeskonservator Jörg Haspel.

Das Stückchen Holzkohle kam gestern zum Jubiläumsrundgang der versammelten Presse samt Funk und Fernsehen gerade recht. Der Regierende Bürgermeister marschierte, gut gelaunt wie ein cleverer und kundiger Stadtführer, vorneweg durchs Uralt-Berlin und sagte bedeutende Sätze: „Wir wollen das Jubiläum nicht übertrieben feiern, aber Akzente setzen. Dies ist ein Zwischenschritt. Zur 800-Jahrfeier in 25 Jahren wird’s wieder ganz groß, und dazu lade ich Sie schon mal alle ganz herzlich ein“. Zuvor aber werden bei den Jubiläumsausstellungen die Spuren des Mittelalters neu entdeckt: „Hier wird etwas freigelegt, was vorher nicht im Bewusstsein war“. Der Beweis dafür ist die Ausgrabungsstelle am Jüdenhof nahe der Klosterstraße, wo sogar Pfeilspitzen und Reitersporen gefunden wurden, auch ein Bierkrug inmitten der „Jubiläumsschichten“. Wie große Litfaßsäulen wirken die pinkfarbenen Aussichtspunkte, auffallende Historien-„Röhren“, in denen entlang der Grunerstraße Geschichten von einst erzählt werden. Auch hier kann man auf dem Gehweg das Neueste von anno dunnemals lesen, zum Beispiel, dass es nicht leicht war, hier Bürger zu werden: „Man musste ehelich geboren sein, ein Grundstück besitzen, deutsche Eltern haben, einen ehrbaren Lebenswandel führen und ein gutes Einkommen haben. Und man musste ein Mann sein“.

Nächste Station für den Flaneur durchs Mittelalter ist der Platz vor der Marienkirche, wo 30 Litfaßsäulen mit seltenen Fotos die drei Stadt-Jubiläen von 1937 und 1987 in Ost und West in die Gegenwart holen. Übrigens hatte es, wie gestern, auch am 15. August 1937 in den von Hakenkreuzfahnen flankierten Festumzug der Reichshauptstadt hineingeregnet, hier werden Erinnerungen an den Wassercorso in West-Berlin, das Rockkonzert am Reichstag und den Umzug in der DDR-Hauptstadt mit 40 000 Mitwirkenden wach. Und noch mehr Informationen über Berlin von gestern liefert schließlich der auf den Schlossplatz regenfest gemalte Stadtplan, auf dem man die Stadt im Maßstab 1:775 durchmisst und dabei 150 Geschichten zum Thema Vielfalt durch Zuwanderung im Berliner Leben erfährt. „Wer zum Jubiläum einen Trachtenumzug erwartet, wird sicher enttäuscht“, sagt Tourismus-Chef Burkhard Kieker, „aber dieser Blick zurück ist für alle interessant, für uns und unsere Gäste“.

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