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Berlin: Ein heimlicher Bestseller aus dem Klassenzimmer

Schüler schrieben einen Gruselroman. Unter Pseudonym wurde das Buch zum Erfolg

Als Tanja Karsten ihr eigenes Buch zum ersten Mal in einer Verlags-Vorschau sah, erkannte sie es gar nicht. Die junge Frau arbeitet in einer Buchhandlung und bekommt viele solcher Kataloge in die Hand. Außerdem kamen ihr weder Titel noch Autorin bekannt vor: „Vier Tage währt die Nacht“ von Dorothea S. Baltenstein. Auch die Präsentation mit einem großen Totenkopf gefiel ihr nicht, also blätterte sie schnell weiter.

Erst ein paar Wochen später bekam Tanja Kasten eine E-Mail von ihrem ehemaligen Deutschlehrer Michael Schmid. Der hatte inzwischen für das Buch, das sie zusammen mit drei Mitschülerinnen in einer Deutsch-AG geschrieben hatte, einen Verlag gefunden. Dessen Bedingung: Der Schauerroman musste unter dem Pseudonym einer erfundenen Autorin erscheinen. Das Buch wurde ein Bestseller und Tanja Kasten und ihre Mitautorinnen durften niemandem davon erzählen – bis der Schwindel aufflog.

Alles hatte mit Schmids Idee angefangen, in seinem Deutsch-Wahlpflicht-Kurs im Tegeler Bülow-Gymnasium eine kleine Erzählung schreiben zu lassen. Die Schüler wollten zuerst einen Horror-Thriller à la „Scream“. Schmid: „Wie hätte ich das den Eltern erklären sollen?“ Also überredete der Romantik-Fan sie, die Handlungszeit um 200 Jahre vorzuverlegen und eine Schauergeschichte daraus zu machen.

Gemeinsam überlegten sich die Schüler das Grundgerüst der Handlung: Im Jahre 1817 trifft sich eine Gruppe von Literaten zu einem Wettstreit auf einem schottischen Schloss, nacheinander werden die Teilnehmer ermordet. Jeder schrieb einen Teil der Geschichte. Schnell war das Schuljahr vorbei, aber der Romanentwurf knirschte noch an einigen Ecken. Schmid brachte vier der Schülerinnen dazu, nachmittags weiter an dem Text zu arbeiten. Drei Jahre lang traf man sich einmal die Woche, zum Abitur war das Werk auf 400 DIN-A4-Seiten angewachsen. Die Schülerinnen träumten inzwischen schon von einer Buchveröffentlichung, aber Lehrer Schmid war skeptisch.

Zunächst wurden 150 gebundene Exemplare gedruckt – eigentlich viel zu teuer, aber ein Vater ließ seine Beziehungen spielen. Die Bücher wurden in der Aula verkauft, nach 20 Minuten waren sie vergriffen. Damit wurde der Druck auf Schmid größer. Also schickte er seine verbliebenen acht Exemplare mit Rückporto an Verlage. In einem Jahr sammelte er 60 Absagen. Dann meldete sich Eichborn.

Das Buch kam in die Bestsellerlisten, die Frankfurter Allgemeine urteilte: „Hinreißend spannend“. Schmid, der als Herausgeber firmierte, musste immer öfter die Geschichte erzählen, wie er das Manuskript auf einem Speicher gefunden hätte und dass die Autorin verstorben sei. Bis im Dezember der „Stern“ die Wahrheit aufdeckte.

Nun konnte Tanja Kasten endlich ihren Kollegen in der Buchhandlung erzählen, wer sich hinter Dorothea Baltenstein verbirgt. Als einzige des Quartetts hat sie noch viel mit Literatur zu tun, sie studiert inzwischen Germanistik. Irgendwann will sie sich vielleicht noch einmal als Schriftstellerin versuchen – wenn sie es schafft, die Angst vor einer Enttäuschung zu überwinden.

Michael Schmid, der Vater des Bucherfolges, will zurzeit nicht an die Veröffentlichung eines Nachfolgewerks denken. Dafür fehlt ihm die Zeit. Seit diesem Schuljahr, erzählt Schmid, seien seine Schreibkurse total überfüllt. Mit seinen Schülern arbeitet er jetzt an einer Stasi-Geschichte, die zur Wendezeit spielt. Vielleicht steht das Werk demnächst in einer Verlags-Vorschau.

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