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Berlin: Ein Jahr Bücherstadt auf dem einstigen Militärgelände Wünsdorf - derzeit zwölf Antiquariate

Wo ein unbekannter Kosmonaut vom Sockel grüßt, verlassene Militärbauten den Weg säumen und obendrein ein überlebensgroßer Lenin den Weg weist, fällt die Besinnung auf weit zurückliegende Zeiten nicht schwer. Besser kann die Einstimmung auf rund 80 000 alte Bücher kaum ausfallen.

Wo ein unbekannter Kosmonaut vom Sockel grüßt, verlassene Militärbauten den Weg säumen und obendrein ein überlebensgroßer Lenin den Weg weist, fällt die Besinnung auf weit zurückliegende Zeiten nicht schwer. Besser kann die Einstimmung auf rund 80 000 alte Bücher kaum ausfallen. Sie stehen in Deutschlands erster Bücherstadt im früheren russischen Oberkommando Wünsdorf, 35 Kilometer südlich Berlins. Das hier vor einem Jahr begonnene und von Experten anfangs durchaus skeptisch beurteilte Experiment scheint geglückt zu sein. Von den zwölf Antiquariaten hat keines aufgegeben.

Im Gegenteil. Mitte Oktober werden weitere fünf Läden öffnen, so dass die Besucher dann in über 100 000 Büchern stöbern können. Im nächsten Mai steigt die Zahl der Antiquariate auf über 20. Nicht zuletzt die Erweiterung der Öffnungszeiten spricht für den Erfolg. Waren die Bücherfreunde anfangs nur an den Wochenenden willkommen, sind jetzt nur noch der Dienstag und Mittwoch Ruhetage.

Dabei klang die Idee zu dieser Bücherstadt tatsächlich etwas verwegen. Ausgerechnet in diese von den Militärs seit fast 100 Jahren beherrschte Gegend sollten Kultur und Kunst auf hohem Niveau Einzug halten? Immerhin übte hier schon 1906 das kaiserliche Heer Angriff und Verteidigung, stellte 1933 die Wehrmacht ihr erstes Panzerregiment auf, entwarfen die Generäle den Plan "Barbarossa" zum Überfall auf die Sowjetunion, und zwischen 1953 und 1994 dirigierte das Oberkommando mit schätzungsweisen 40 000 Soldaten die Präsenz der sowjetischen und später ausschließlich russischen Armee in Ostdeutschland. Doch als nach deren Abzug vor fünf Jahren die Ideen für die Zukunft dieses 600 Hektar großen Areals gesucht wurden, tauchte irgendwann auch der Vorschlag für eine kleine Bücherstadt auf.

Es war wohl mehr als ein glücklicher Zufall, dass sich ausgerechnet der Chef des ersten Aufbaustabes und spätere Landesbeauftragte für die Kasernenstadt dafür begeistern ließ. Wolfgang Metz, vor 56 Jahren in Koblenz geboren und zeitweiliger Geschäftsführer der bayerischen SPD, fand im walisischen Hay-on-Wye Gefallen an einem gemeinsamen Auftritt vieler höchst unterschiedlicher Antiquariate an einem Ort. Dort hatte der Brite Richard Booth in den sechziger Jahren die erste Antiquariatsstadt der Welt gegründet. Metz suchte im riesigen Wünsdorfer Kasernengelände nach geeigneten Räumen und wurde am Rande des ehemaligen Fliegerstädtchens (daher das Denkmal des Kosmonauten) fündig: Das frühere Duschhaus für die Soldaten und angrenzende Pferdeställe schienen geeignet.

Kurz vor der vorjährigen Kommunalwahl gab Metz seinen Posten als Landesbeauftragter auf, da die frühere Militärstadt nun ganz offiziell zu Wünsdorf gehörte. Er rief die Bücherstadt-Tourismus GmbH ins Leben, erstritt von der landeseigenen Entwicklungsgesellschaft für drei Jahre subventionierte Mieten und öffnete mit den ersten Enthusiasten die Bücherstadt. Die meisten kamen aus Berlin, doch auch kleine Unternehmer aus Frankfurt (Main) und aus Wiesbaden ließen sich begeistern.

"35 000 Besucher im ersten Jahr zeugen vom Erfolg der kühnen Idee", sagt Wolfgang Metz. "Dabei haben wir noch gar nicht richtig für uns geworben. Im dritten Jahr wollen wir 100 000 Kunden bei uns begrüßen und damit den endgültigen Durchbruch schaffen, wobei der Massentourismus nicht unser Ziel sein kann." Im Angebot befände sich schon jetzt Literatur jeden Genres, darunter auch in russischer und englischer Sprache. Besonders freue er sich auf die Eröffnung eines Antiquariats speziell mit Fontane-Werken am 15. Oktober. "Das ist schließlich gerade für Brandenburg von enormer Bedeutung", erklärt Metz.

Um aber nicht gänzlich von der möglicherweise weiter schwindenden Leselust abhängig zu sein, will Metz auch andere Anziehungspunkte rund um die Bücherstadt anbieten. "Wir setzen auf Kultur, Geschichte, Natur sowie künftig noch mehr auf Sport und Freizeit", kündigt er an. Der unterirdische Bunker "Zeppelin", der unter anderem die Nachrichtenzentrale der Wehrmacht beherbergte, kann ebenso besichtigt werden wie einige Spitzbunker oder die Ausstellung über den Soldatenalltag der Russen. Ein Restaurant und eine Teestube laden zum Verweilen ein. "Bisher kann sich der Besucher bei uns rund vier Stunden beschäftigen. Diese Zeit wollen wir ausbauen", sagt Metz.

An Zielen für einen Bummel mangelt es schon jetzt nicht. Inzwischen leben in den renovierten Soldatenunterkünften und alten Villen schon wieder 2000 Menschen. Die Kasernen bieten Arbeitsplätze für 1000 Behördenangestellte. Dann wären schließlich noch die Denkmäler aus jener Zeit. Nur in Wünsdorf steht Lenin gleich zweimal auf dem Sockel.Wünsdorf ist per Bahn von Berlin aus im Stundentakt zu erreichen. Sonnabends und sonntags verkehren stündlich Busse vom Bahnhof Wünsdorf zur Bücherstadt. Wanderer und Radfahrer benutzen den gut ausgebauten Radweg entlang der B 96, der über Zossen nach Wünsdorf führt.

Öffnungszeiten der Bücherstadt und des Museums: donnerstags bis montags 10 bis 18 Uhr, Bunkerführungen am Wochenende um 12, 13, 14, 15 und 16 Uhr, montags, donnerstags und freitags um 14 Uhr, Telefon 0337 02/9600, Internet: www.buecherstadt.de oder www.garnisonsmuseum.de .

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