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Engagement. Ein Berliner Kinderarzt untersucht einen geflüchteten Jungen. Viele Mütter kommen mit Kleinkindern.

©  Imago

Ein Jahr "Charité hilft": „Wir haben das geschafft“

Als die Flüchtlinge kamen, rief Berlins größtes Krankenhaus spontan die Aktion „Charité hilft“ ins Leben. Was ist seither geleistet worden, wie geht es weiter? Eine Bilanz nach dem ersten Jahr.

Am Anfang stand ein Aufruf an die Mitarbeiter. Er kam per E-Mail, die Adresse war Programm: charite-hilft@charite.de. Ulrich Frei, der Ärztliche Direktor des Universitätsklinikums, ist ein bisschen stolz darauf, dass die Charité damit sehr schnell war: Schon am 28. August des letzten Jahres, noch vor dem legendären Satz der Bundeskanzlerin, begann die Aktion, kurz darauf hatten sich bereits 140 Ärztinnen und Ärzte gemeldet, die Geflüchteten medizinisch helfen wollten. Im klinikeigenen Intranet wurden Dienstpläne erstellt, die bis Weihnachten reichten. Als erstes Berliner Krankenhaus engagierte sich die Charité bei der medizinischen Erstversorgung in zwei Notunterkünften. Im November wurde sie schließlich vom Land Berlin mit der Organisation der Notversorgung auf dem Lageso-Gelände in der Turmstraße beauftragt, anfangs ohne vertragliche Regelungen, betont Frei. Nun, nach einem Jahr, legt die Charité eine Bilanz der bisherigen Arbeit vor.

Vom anfänglichen Katastrophenmodus habe man nach und nach zu einem regulären Modus übergehen können, erläutert Frei. Zu Beginn gab es einen regelrechten Ansturm von Flüchtlingen auf Rettungsstellen, weil man hier als Notfall auch ohne „grünen Schein“ behandelt werden konnte. Die Notaufnahmen mussten zeitweise personell verstärkt werden. Dass man allmählich zurückfahren kann, ist für Frei ein Zeichen für das gute Funktionieren der medizinischen Versorgung.

Insgesamt 25 542 Patienten mit akuten und chronischen Erkrankungen wurden bis jetzt in den Einrichtungen betreut, die die Charité unterstützt: Zuerst in Spandau in einer ehemaligen Kaserne (wo inzwischen Vivantes die Betreuung übernommen hat) und in der Glockenturmstraße auf dem Olympiagelände, später in einer Messehalle. Und natürlich in der Ambulanz in der Moabiter Turmstraße. Glücklicher Umstand: Hier konnte man in Räume der ehemaligen Medianklinik ziehen.

Manche haben Schussverletzungen, andere brauchen Prothesen

In die „MediPoints“ der Unterkünfte und Aufnahmeeinrichtungen kommen die Menschen oft mit Beschwerden, mit denen dauerhaft hier ansässige Bürger sich im Allgemeinen zuerst an ihren Hausarzt wenden. Häufigste Probleme: Atemwegs- oder Magen-Darm-Infekte, Schmerzen an Rücken, Gelenken oder Zähnen. Es kommen auch Schwangere und Mütter mit Babys oder Kleinkindern. Anfangs spielten aber auch fluchtbedingte Gesundheitsprobleme wie Erschöpfung, Hautinfektionen oder Austrocknung eine Rolle. Es kamen Menschen, die sich bei der Flucht Fußwunden zugezogen hatten, die nun schlecht verheilten. Aber auch Menschen mit schlecht versorgten Wunden, die von Schussverletzungen herrührten, und solche, die Prothesen brauchten. „Teilweise wurden sie bis zu uns getragen“, berichtet Heike Rössig, die sich seit November letzten Jahres beim MediPoint in Moabit als Pflegekraft engagiert.

„Das Aufgabenspektrum hat sich verschoben“, berichtet Joachim Seybold, Stellvertretender Ärztlicher Direktor der Charité. Dank eines „Impfshuttles“ konnten 8700 Menschen nach den Vorgaben der Ständigen Impfkommission (Stiko) des Robert-Koch-Instituts geimpft werden. Unter den 114 Orten, die der Bus angefahren hat, sind auch 32 Unterkünfte für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge. Von den insgesamt 5534 Erstuntersuchungen entfielen 1870 auf sie.

Längst leisten die Pflegekräfte und Ärzte der Charité all das nicht mehr „nebenbei“. Inzwischen gibt es (befristete) Stellen für 19 Mitarbeiter aus der Pflege, sieben Dolmetscher und Verwaltungsmitarbeiter und 16 Ärzte. Unter den Medizinern sind ein Internist und ein Unfallchirurg, die selbst aus ihren Heimatländern geflüchtet sind. Zu „Charité hilft“ gehört auch ein Ausbildungsprogramm, das an Pflegeberufe heranführt. „Zu unserem Ausgabenspektrum zählt neben der Prävention auch die Integration“, so Seybold. Mit dem Robert-Koch-Institut werden die Statistiken und bisherigen Erfahrungen wissenschaftlich ausgewertet. Auch die dritte Säule der Universitätsmedizin, die Lehre, ist einbezogen. Von Anfang an habe es großes Interesse der Studierenden an der Ambulanz in Moabit gegeben, berichtet Seybold. Inzwischen sei sogar ein Wahlpflichtfach „Medizinische Flüchtlingsversorgung“ als Modul für das Medizinstudium angedacht.

Wie steht es um die seelische Gesundheit von Flüchtlingen?

Wer über Flüchtlinge spricht, kann die psychische Gesundheit nicht außer Acht lassen. Die Menschen, die in die zentrale psychiatrische Clearingstelle in der Turmstraße kommen, haben meist schon eine besonders hohe Hürde genommen: Werden seelische Erkrankungen generell immer noch stigmatisiert, so ist das in den Herkunftsländern vieler Geflüchteter besonders stark der Fall. Die Ratsuchenden treffen in der Clearingstelle auf Arabisch sprechende Psychiater, die sie unabhängig von ihrem Aufenthalts- und Versicherungsstatus untersuchen, Beratung anbieten und sie weitervermitteln. 35 Prozent der Erwachsenen, die sich an die Clearingstelle wenden, leiden unter Depressionen, mehr als jeder Fünfte unter einer posttraumatischen Belastungsstörung. In der Gruppe der unbegleiteten Minderjährigen, die in der Clearingstelle landen, sind es über 35 Prozent. Man kann das als Hinweis darauf betrachten, dass die Mitarbeiter der Unterkünfte gut erkennen, wer besondere psychiatrische oder psychologische Hilfe braucht.

„Wir haben die medizinische Versorgungsseite der großen Migrationswelle gut in den Griff bekommen“, urteilt Ulrich Frei. Die Zusammenarbeit mit den Mitarbeitern des vor allem zu Beginn viel gescholtenen Lageso sei jederzeit vertrauensvoll gewesen, auch wenn Strukturen und Regelwerke Behörden prinzipiell verlangsamten. In Anspielung auf das Kanzlerinnenwort vom letzten Jahr resümiert Frei vorsichtig: „Fast würde ich sagen: Wir haben das geschafft.“

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