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Ein Jahr nach dem Unglück: Schuldfrage für Busunfall am Schönefelder Kreuz bleibt offen

Vor einem Jahr starben 14 Menschen bei einem Busunfall am Schönefelder Kreuz. Für die Staatsanwaltschaft ist eine Autofahrerin verantwortlich, ihr Anwalt vermutet Mängel an der Autobahn.

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Am Sonntag haben sie im westpolnischen Städtchen Zlocieniec der Opfer gedacht, für sie gebetet: für Karolina, die an ihrem 13. Geburtstag starb. Für das Ehepaar, das so lange auf die Reise nach Spanien gespart hatte. Für die anderen elf Toten und die 38 Verletzten, darunter den Busfahrer und die Autofahrerin, die den folgenschweren Unfall verursacht haben soll.

An diesem Montag vor einem Jahr starben am Schönefelder Kreuz 14 Menschen, als eine von der A 113 kommende Berlinerin bei der Auffahrt zur A 10 in Richtung Frankfurt (Oder) auf regennasser Fahrbahn die Kontrolle über ihren Mercedes verlor, der gegen den polnischen Reisebus schleuderte. Dessen Fahrer wollte ausweichen und stieß gegen Brückenpfeiler.

Die Bilder der teilweise schrecklich verstümmelten Leichen haben weder die Überlebenden noch die Helfer vergessen können, von denen gestern viele in Zlocieniec waren. Zusätzlich belastend für die Opfer ist, dass die meisten noch keine richtige Entschädigung erhalten haben, weil auch ein Jahr nach dem Unfall noch keine juristische Aufarbeitung erfolgte und die Schuldfrage nicht geklärt ist.

„Ich kann mir nicht vorstellen, dass sich Staatsanwaltschaft, Gericht oder Gutachter so viel Zeit lassen würden, wenn die Opfer eine größere Lobby in Deutschland hätten“, sagt Radoslaw Niecko. Er ist der Anwalt des polnischen Busfahrers Grzegorz J., der nach einer komplizierten Augenoperation immer noch nicht wieder arbeiten kann. „Busfahrer verdienen in Polen nur, wenn sie fahren“, sagt Niecko. „Dann gibt es Übernachtungspauschalen sowie Tage- und Kilometergeld. Mit seinem Grundgehalt von 1400 Zloty, das sind etwa 350 Euro, kann Grzegorz J. aber seine Familie mit drei schulpflichtigen Kindern nicht ernähren.“

Zwar habe die Versicherung der Mercedesfahrerin eine Einmalzahlung und einen Vorschuss für notwendige Auslagen gezahlt, aber alles ohne Anerkennung einer Rechtspflicht, sagt Niecko. Deshalb sei es für Grzegorz J. und die anderen Opfer so wichtig, dass der Prozess gegen die vermeintliche Unfallverursacherin endlich stattfinde. Die Verhandlungen mit der Versicherung und eventuelle zivilrechtliche Prozesse um Entschädigungszahlungen würde es jedenfalls vereinfachen, wenn die Schuldfrage geklärt sei.

Lange hieß es, die Berliner Mercedesfahrerin, eine Polizistin, sei zu schnell auf die Autobahn gerast. Die Staatsanwaltschaft Potsdam hat die heute 38-Jährige bereits im Januar wegen fahrlässiger Tötung angeklagt, allerdings damals schon erklärt, dass der Vorwurf der Raserei nicht stimme. Denn schon das Erstgutachten der Prüfgesellschaft Dekra geht davon aus, dass die Frau auf der Zufahrt nur rund 40 Kilometer pro Stunde fuhr. Dies ist kein Verstoß gegen Verkehrsbestimmungen. Die Fahrerin soll beim Eintreffen auf der Autobahn jedoch stark beschleunigt haben, wodurch die Hinterreifen des Mercedes durchdrehten.

Die Anklage bezieht sich folglich auf das Beschleunigen bei kritischen Fahrbahnverhältnissen. Aus Justizkreisen hieß es aber, es handele sich „um einen minder schweren Fall von fahrlässiger Tötung“. Die Frau habe keine „erheblichen Fahrfehler“ gemacht. Bei Verurteilung drohen ihr bis zu fünf Jahre Haft, wahrscheinlicher ist jedoch eine Geldstrafe.

Wenn das Landgericht in Potsdam die Anklage überhaupt zulässt. Das erste Gutachten reichte dafür offenbar nicht, denn die Kammer hat ein zweites in Auftrag gegeben. Der Berliner Experte und Sachverständige für Straßenverkehrsunfälle Hartmut Rau wird den Unfallablauf nun erneut rekonstruieren, dazu sollen Experten direkt am Schönefelder Kreuz den Hergang nachvollziehen.

Lesen Sie auf Seite 2, wie die Berliner Autofahrerin den Zusammenstoß möglicherweise hätte vermeiden können.

Rau wehrt sich gegen den Vorwurf, das Verfahren ginge schneller, wenn die Opfer Deutsche wären. „Ich habe den Auftrag für das Gutachten erst im Juni vom Gericht erhalten“, sagte er. „Im November will ich fertig sein. Das ist keine ungewöhnlich lange Zeit.“ Gerade weil er wisse, wie wichtig der Prozess für die Beteiligten sei, müsse er besonders sorgfältig arbeiten. „Das ist keine Verzögerungstaktik, sondern Verantwortungsbewusstsein“, sagt er, „und das gilt auch für das Gericht.“ Zum Inhalt des Gutachtens will sich Rau nicht äußern, letztlich dürfte es aber darum gehen, ob der Unfall unter den gegebenen Straßen- und Witterungsbedingungen vermeidbar war.

Der Anwalt der Mercedesfahrerin, Carsten Hoenig, ist der Ansicht, dass seine Mandantin gar nicht vor Gericht gehört. „Sie hatte nichts getrunken, keine Tabletten genommen, war ausgeschlafen, ist nicht mit überhöhter Geschwindigkeit gefahren und musste beschleunigen, um sich einzufädeln“, sagt er. „Und wenn das Fahrzeug in einem technisch einwandfreien Zustand war, muss die Ursache anderswo zu suchen sein.“

Natürlich hat Hoenig eine Theorie: Man müsse genau prüfen, ob der Straßenbelag in Ordnung war, sagt er, und ob überhaupt der bauliche Zustand dieses Teils des Schönefelder Kreuzes den Unfall nicht zumindest begünstigt habe: „Die Lage der Pfeiler, an die der Bus prallte, die Enge der Auffahrtkurve und die Kürze der Beschleunigungsspur könnten Faktoren sein, die zu berücksichtigen sind“.

Im für Brandenburgs Autobahnen zuständigen Landesbetrieb Straßenwesen weist man solche Überlegungen strikt zurück: „Wir haben nach diesem furchtbaren Unfall, der eine Verkettung vieler unglücklicher Zufälle war, natürlich auch alles auf den Prüfstand gestellt“, sagt Sprecherin Cornelia Mitschka. „Aber es gibt keinerlei Hinweise auf Fahrlässigkeiten oder bauliche Fehler.“ Schließlich sei das Schönefelder Kreuz in der jetzigen Form erst im Jahr 2000 in Betrieb genommen worden – „da wurden alle Regeln und Richtlinien, die es in der Bundesrepublik Deutschland gibt, streng eingehalten“.

Unabhängig davon gilt, dass Kraftfahrer sich den Witterungs- und Straßenverhältnissen anpassen müssen. Und dass sie, wenn ein Einfädeln auf die Autobahn nicht möglich ist, anhalten müssen.

Wahrscheinlich wird das Gericht erst Anfang des nächsten Jahres entscheiden, ob es die Anklage zulässt. Für die Berliner Fahrerin ist das die größte Belastung. „So etwas steckt niemand einfach weg“, sagt ihr Anwalt. Aber auch der polnische Busfahrer Grzegorz J. wäre über einen möglichst raschen Prozess froh. Nicht nur wegen der versicherungstechnischen Fragen, sondern vor allem, weil er hofft, etwas mehr Ruhe zu finden. Viele Angehörige der Toten haben ihm gesagt oder geschrieben, dass sie ihm keine Mitschuld geben. Aber das bewahrt Grzegorz J.nicht davor, sich jeden Tag zu fragen, ob und wie er dieses furchtbare Unglück irgendwie hätte verhindern können.

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