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Berlin: Ein Kornfeld in der Stadt

High Noon an der Bernauer Straße, deren Vergangenheit ebenso bekannt sein dürfte wie die vom Checkpoint Charlie. Von der (authentischen) Mauer bis zur gekünstelt überhöhten stählernen Gedenkplatte sind es nur ein paar Schritte, aber dann laufen wir weiter, über die Ackerstraße, und sehen unvermittelt die eigentliche kleine Sensation, die dem Erinnern eine ganz neue Form gegeben hat: Ein wogendes Kornfeld, mitten in der Stadt.

High Noon an der Bernauer Straße, deren Vergangenheit ebenso bekannt sein dürfte wie die vom Checkpoint Charlie. Von der (authentischen) Mauer bis zur gekünstelt überhöhten stählernen Gedenkplatte sind es nur ein paar Schritte, aber dann laufen wir weiter, über die Ackerstraße, und sehen unvermittelt die eigentliche kleine Sensation, die dem Erinnern eine ganz neue Form gegeben hat: Ein wogendes Kornfeld, mitten in der Stadt. Der Halm steht gut, durchwirkt und durchwachsen von leuchtend roten Mohnblüten, und wenn der liebe Herrgott kein Unwetter schickt, kommt Mitte August der Mann mit der Sense, es wird ein schönes Erntefest geben rings um die Kapelle der Versöhnung auf dem Platz im einstigen „Grenzgebiet“, wo seit 1894 jene große Kirche stand, die die DDR 1985 selbstherrlich sprengen ließ zu Zeiten, als sie schon ziemlich verfault war.

Nun also wächst Roggen im damaligen Niemandsland. Vor 200 Jahren waren hier schon einmal Felder, wie die Straßennamen erzählen. Ackerstraße, Feldstraße, Gartenstraße. Nun scheint es so, als sei die neue runde Kapelle mitten ins Feld gebaut, umringt vom Wachsen, Werden und Vergehen, von der starken Natur, die sich nicht unterkriegen lässt und den steinigen Boden durchbricht. Der rührige Pfarrer Manfred Fischer spricht vom Sinnbild für die Josephsgeschichte mit den sieben fetten und den sieben mageren Jahren. Direkt neben dem Feld behaut Michael Spengler einen Sandstein-Block, sieben Tonnen schwer, eine Riesen-Schrippe wird das, man erkennt schon die Konturen des fast zwei Meter langen und ein Meter hohen Brötchens, goldgelb wie das Korn nebenan. Die Tonnen-Schrippe soll an jene „Schrippenkirche“ erinnern, in der Weddinger Proletarier einst Sättigung erfuhren.

Jetzt, um zwölf Uhr, läuten die Glocken. Sie rufen in die Kapelle der Versöhnung zum praktizierten Mauergedenken: Von Dienstag bis Freitag wird aus einem Mauertotenbuch gelesen – jeder ist dazu willkommen, als Zuhörer oder Vorleser. Die Biographie eines jeden Opfers erhellt seine Geschichte und versucht, die Motive der Flucht zu erklären. Die Toten bekommen in dieser Gedenkandacht Gestalt und Gesicht. Die Mauer, ihre Folgen und ihr Schrecken begleiten uns über diese Viertelstunde hinaus in den Tag – ganz ohne Ball, jedenfalls hier, an der Bernauer Straße.

Die Kapelle der Versöhnung steht schräg gegenüber der Gedenkstätte Berliner Mauer in der Bernauer Straße 111, vom S-Bahnhof Nordbahnhof etwa 200 Meter entfernt.

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