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Berlin: Ein langer Weg

Einen Heimplatz finden zu müssen, kommt in der Regel überraschend. Die Suche ist für Angehörige deshalb oft mit viel Stress, Sorge und Verzweiflung verbunden. Eine Betroffene berichtet

Sonntag ist bei mir Muttertag. Immer mit dem gleichen Programm: Ich besuche meine Mutter im Pflegeheim, setze sie in den Rollstuhl und fahre mit ihr spazieren. Meist gehen wir in ein kleines Eiscafé in der Nähe des Heimes. Es hat eine Behindertentoilette, was in Berlin ja eher eine Ausnahme ist. Außerdem lässt meine Mutter bei Kuchen nicht das Gebiss rausfallen. Mit dieser kleinen Unart bekommt sie sonst die ersehnte Aufmerksamkeit, die ihr im Heim oft fehlt.

Als sie vor zwei Jahren in die Pflegeeinrichtung kam, war sie noch total tough - nervlich und geistig fit. Der geistige Abbau kam später, schleichend.

Heute kann ich besser mit all dem umgehen als noch vor zwei Jahren. Damals musste ich mich überwinden, meine 86-jährige Mutter in ein Pflegeheim zu geben. Im Juli 2005 war sie in ihrer Wohnung gestürzt - Oberschenkelhalsbruch. Bis dahin hatte sie sich selbst versorgen können, ging einkaufen, hat saubergemacht. Hilfe brauchte sie nur beim Fensterputzen und Staubsaugen. Täglich ging sie unter die Dusche, über die Kasse hatte ich einen Wannenlifter besorgt.

Da ihr Knie kaputt war, hatte sie zu dieser Zeit schon Pflegestufe I. Die vier Treppen in ihre Wohnung hat sie mit meiner Hilfe aber immer noch geschafft.

Nach dem Unfall sah es zunächst so aus, als käme alles wieder in Ordnung.Nach der Behandlung im Krankenhaus kam sie in eine Reha-Klinik - zwischenzeitlich ließ ich ihre Wohnung umbauen lassen: keine Schwellen mehr, ein neues Bett, einen Essensdienst. Auch einen guten Pflegedienst hatte ich gefunden, der drei Mal in der Woche kam. Dazu eine Fußpflegerin und einen Friseur. Meine Mutter liebt es, sich schön zu machen. Sie schminkte sich immer noch täglich.

Dann brach sie sich die Hüfte – das war der Anfang vom Ende ihres Lebens zu Hause und der Beginn einer Krankenhausserie. Als sie sich in der Klinik dann die Hüfte zum zweiten Mal brach, wusste ich, dass ich sie nicht mehr allein in ihrer Wohnung lassen konnte. Nach der letzten Reha kam sie direkt ins Heim.

Ich kann gut organisieren, aber die Zeit, bis ich das Heim für meine Mutter gefunden hatte, gehört zur schlimmsten meines Lebens. Mein Sohn konnte mir dabei kaum helfen, er ist Arzt in den USA. Außerdem war ich immer alleinstehend und kann es mir nicht leisten, vor dem Ruhestand daheim zu bleiben. Ich bin „erst“ 58 Jahre und muss noch ein paar Jährchen arbeiten.

Meine Mutter bekommt eine Rente von genau 780 Euro. Damit ein gutes Heim zu finden, ließ mich fast verzweifeln. Da ich kein Auto habe, musste ich auch darauf achten, dass es nicht zu weit entfernt ist. In einer schönen Umgebung, in der man spazieren gehen kann, sollte es auch liegen. Und etwas anderes als ein Einzelzimmer kam sowieso nicht in Frage. Dass es in Pflegeheimen überhaupt Doppelzimmer gibt, finde ich abartig. Wieso soll jemand, der sein Leben lang selbstständig war, nur weil er pflegebedürftig geworden ist, plötzlich mit einer wildfremden Person in einem meist nicht sehr großen Zimmer zusammen leben und auf jegliche Intimsphäre verzichten?

Bei meiner Suche war ich oft mehr als verzweifelt, und die Zeit drängte. Ich klapperte all die Heime ab, die ich in Prenzlauer Berg kannte. Die kirchliche Einrichtung, die mir unser Hausarzt empfahl, machte auf mich einen erdrückenden Eindruck. Da hing ein riesen Jesus an der Wand, die Beleuchtung war spärlich. Außerdem haben wir es in unserer Familie nicht so mit der Frömmigkeit.

Ein Nachbar in meinem Wohnhaus gab mir dann den entscheidenden Tip. Das Heim war funkelnagelneu und wie ein Hotel gehalten. Ich war geblendet. Was ich nicht wusste: Das Haus wird von einer Unternehmensgruppe betrieben, die in der Stadt offensichtlich nicht den besten Ruf genießt. Mit meiner Mutter, die damals geistig noch voll da war, hatte ich über das Heim gesprochen – „Wenn ich da noch raus kann“, war sie einverstanden, nicht mehr ihre Wohnung, in der sie fast ein Leben lang wohnte, zurückzukehren.

Ich bekam ein Einzelzimmer zugesagt, in das meine Mutter Weihnachten 2005 einzog. Die drei Monate bis dahin waren die Hölle. Ich stand kurz vor der Klapse und heulte nur noch. Behördliche Unterlagen und Anträge waren auszufüllen, die Wohnung aufzulösen, das Zimmer im Heim etwas angenehmer zu gestalten, Zeitungen und anderes zu kündigen. Nebenher ging ich auch noch arbeiten – ich bekam Schlafstörungen und begann aus Frust, immer mehr zu essen.

Im Heim bekam ich allerdings schnell mit, dass einiges Blendwerk war. Die ärztliche Versorgung haperte, die Sauberkeit auch. Für den Preis, den der Platz in der Pflegestufe II kostet, könnte man auch nicht nur ab und an ein wirklich grünes Blatt auf dem Teller erwarten oder frisches Obst, dass meine Mutter gerne isst. Auch die vollmundig in der Heimphilosophie versprochene individuelle Zuwendung für jeden Heimbewohner kommt oft zu kurz.

Keine Zeit, keine Leute. Deshalb auch wenig frische Luft. Wer keinen Besuch bekommt, kommt eben auch kaum raus. Die herrliche Terrasse wird viel zu wenig genutzt. Ich habe mir den Lebensabend meiner Mutter etwas anders vorgestellt. Doch ich habe gelernt, loszulassen und rege mich nicht mehr über jedes Staubkorn auf. Nur ihr geistiger Abbau machte mir lange zu schaffen. Es ist ein schleichender Prozess, der 2006 darin gipfelte, dass meine Mutter versuchte, sich mit einem Obstmesser das Leben zu nehmen.

Ich habe gehört, wer das erste Jahr in einem Heim übersteht, lebt weiter. Meine Mutter hat sich eingelebt und fühlt sich jetzt zu Hause. Sie ist ein geselliger Typ. Häufig sitzt sie in der Nähe der geöffneten Tür und fragt jeden Vorbeigehenden: „Und? Wohin geht’s denn heute?“

aufgezeichnet von Lisa Schmidt

Lisa Schmidt

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