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Mit Abstand: Besucher genießen in der Coronakrise den Sonnenschein im Stadtpark Schöneberg.

© Kay Nietfeld/dpa

Ein Plan für die Corona-Krise: Wie wir auch wieder feiern gehen könnten

Den Einsatz von Virustests neu denken, Schul- und Veranstaltungsbesuche wieder ermöglichen, „Räume des Vertrauens“ schaffen – ein Gastbeitrag zur Corona-Krise.

Jan Lerch ist Journalist, Medienmanager und war unter anderem als Moderator der „Abendschau“ im RBB tätig. Im folgenden Gastbeitrag beschreibt er einen Plan, wie die Gesellschaft in der Coronavirus-Krise die Normalität zurückgewinnen, dabei Menschenleben bewahren und die Wirtschaft wieder ankurbeln könnte. Er führt aus, wie auch mit Hilfe von Covid-19-Tests aus seiner Sicht Clubs und Veranstaltungen wieder besucht und Schulen und Unis wieder geöffnet werden könnten.

Wir müssen uns daran gewöhnen, dass unsere Politiker*innen genauso wenig wissen, wie jeder von uns, schreibt ein Spiegel-Kollege dieser Tage. Oder genauso viel, wenn wir uns informieren. Sagen dürfen wir es auch – das alles gehört zur Demokratie.

Dass sich unsere Politiker*innen Mühe geben, erkennen in diesen Tagen viele an. Das ist gut. Aber vielleicht müssen wir uns noch mehr anstrengen, gemeinsam noch mehr nachdenken, noch mehr fragen, noch besser abwägen. Denn es geht um sehr viel in diesen Tagen.

Mir scheint, der Konsens der handelnden Politiker*innen und weiter Teile der Öffentlichkeit überbetont den Faktor „Kurve abflachen“ – dieser Weg enthält uns gesellschaftliche Normalität sehr lange vor und würgt unsere Wirtschaft in nie dagewesener Weise ab. Die ökonomischen, sozialen und psychischen Folgen, ja die Konsequenzen für die Zukunftsfähigkeit unseres Landes, sind unabsehbar.

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Der nicht eben alarmistische Weltwährungsfonds erwartet die tiefste Rezession seit den 30er Jahren des vergangenen Jahrhunderts. Was nach der „Great Depression“ passierte, ganz besonders bei uns, ist bekannt. Das war nicht zweitrangig Vergleichbares jetzt wäre nicht etwas, um das man sich irgendwann später kümmern sollte. Daher schlage ich einen anderen Weg vor.

Vorweg.

1. Ich nehme Covid-19 sehr ernst, ich habe in meinem unmittelbaren Umfeld einen 48-jährigen Mann, ohne Vorerkrankungen, der seit Wochen im künstlichen Koma liegt. Ob er es schaffen wird, ist völlig offen.

2. Es gibt keine perfekten Lösungen, schon gar keine ohne Risiko. Wir müssen immer abwägen, ob gesellschaftlich (Verkehr/Verkehrstote) oder individuell (Rauchen/Nichtrauchen).

3. Jetzt ist nicht die Zeit für einen Blick zurück. Da gehört zwar etliches aufgeklärt (Haben wir die Vorwarnzeit, die uns die Ereignisse in China gegeben haben, genutzt?), aber jetzt geht es darum, was wir ab heute besser machen können.

Schritte nach vorn ins Zurück.

Allererste Schritte.

Es ist richtig, dass wir alles dafür tun müssen, die Kurve abzuflachen, Zustände wie in New York und Bergamo kann niemand wollen. Insofern war es höchste Zeit, dass endlich die Maskenpflicht kommt, sie sollte noch konsequenter eingeführt werden, sie ist an öffentlichen Orten zumutbar.

Sie hilft, mindestens als Signal, dass derzeit nichts normal ist, dass Abstandsregeln wichtig sind. Wir sind zur Zeit unnötig nachlässig, ob sich die zu relaxten Tage seit Ostern nicht noch rächen werden, werden wir sehen.

Maske, Distanz, Hygiene retten Leben und versetzen uns erst in die Lage, überhaupt weiter nachdenken zu können. In Frankreich müsste ich diesen Artikel derzeit nicht schreiben, dort sind die Zahlen noch viel zu hoch.

Schritttechnik.

Tests sind das Entscheidende, aber wir müssen ihren Einsatz neu denken. Wir machen Fortschritte bei unseren Testkapazitäten, die reichen aber nicht. Hier müssen wir beweisen, dass wir als Land nicht nur von unseren Ressourcen zehren (gute Krankenhäuser, viele Intensivbetten), sondern dass wir Dynamik können.

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Wenn es uns als Wiege der chemischen Industrie schon nicht gelungen ist, mit Wochen Vorlaufzeit Desinfektionsmittel zu produzieren, sollten wir es zumindest jetzt schaffen, die Zahl der Testlabore und -kits zu skalieren. Geld scheint ja gerade noch da zu sein, dafür sollte es unbegrenzt zur Verfügung stehen, und wenn wir’s doch verlernt haben, sollten wir Elon Musk als Taskmanager holen.

Denn wir brauchen die Tests jetzt! Und zwar viele. Zum Beispiel für unsere Schulen. Die Vorschläge der Leopoldina waren vor allem eins: Futter für Harald Schmidt. Abstands- und Hygieneregeln im Alltag einer Grundschule? Absurd.

Kinderschritte.

Die Schulen müssen schnell wieder funktionieren: für wissbegierige Kinder, für produktive Eltern, für unser normales Leben.

Alle Kinder gehen so schnell wie möglich wieder zur Schule gehen, aber vor ihrem ersten Schulbesuch werden sie zweimal im Abstand von ein paar Tagen (Details sollten Experten abwägen und festlegen) getestet.

Dann beginnt die Schule wieder mit durchgängig negativ getesteten Schüler*innen und Lehrer*innen. Ab dann werden einmal die Woche, mobil auf dem Schulhof, Tests vorgenommen. Sollten Fälle auftreten, sofortige Quarantäne, sollte es trotz der engmaschigen Tests größere Ausbrüche an einer Schule geben, müsste die gesamte Schule für 14 Tage geschlossen werden. Dann wieder zurück auf Los. Weitermachen.

Es gibt bisher keine Daten, dass die Durchseuchung in der Bevölkerung besonders hoch sei, Prof. Drosten sieht sie im niedrigen einstelligen Bereich, das heißt mehr als 95 Prozent haben das Virus wahrscheinlich bisher nicht.

Daher hätte das hier vorgeschlagene Vorgehen in der ganz überwiegenden Zahl der Fälle eine Chance. Zudem: Wir hören auf, mit Mutmaßungen zu operieren. Wir testen, zum Beispiel an einer Grundschule, lückenlos, alle.

Gleichwohl gibt es Blindstellen, die zeitlichen Maschen, sie sind eng, aber sie können dem Virus groß genug sein – und doch, so wäre die Annahme, werden es wenige Fälle sein. Zudem entdeckt man sie schnell. Und es gibt einen doppelten Boden, denn Vorsicht gilt weiterhin: Kinder sollen auch künftig weder unkontrolliert auf öffentlichen Spielplätzen sein oder gar zu Opa und Oma mitgenommen werden.

Wie ungleich größer wäre die Gefahr, Schulen, so wie jetzt geplant, ohne Daten wieder zu öffnen, mit hochgradig fehleranfälligen, praxisuntauglichen Regeln?

Ja, es könnte Rückschläge geben, aber die allermeisten Schulen würden wieder funktionieren. Was wäre mit Lehrer*innen, die zu Risikogruppen zählen? Die wären nach ärztlichen Kriterien vom Unterricht freigestellt.

Was wäre mit Kindern mit Risikofällen in der Familie? Sofern die Familie keine Lösungen finden kann, müssten diese Kinder zusammengefasst und schulübergreifend in professionell organisierten Online-Schulen unterrichtet werden.

Generell gilt, es müssen Risikoabwägungen vorgenommen werden. Risiko null ist keine Option. Zum Glück sind unsere Kinder nur Träger, aber nicht Opfer des Virus. Und neben dem Lernen beinahe noch wichtiger ist die psychische Gesundheit unserer Kinder. So können sie wenigstens in der Schule ihre Freunde treffen und frei spielen. Für Krippe und Kita sollte ein analoges Verfahren aufgesetzt werden.

Der Schritt ins Normale.

Für Jugendliche und Studierende sollte ebenfalls der Unterricht sofort wieder in vollem Umfang aufgenommen werden. Auch hier sollten am Anfang flächendeckende Tests stehen. Auf wöchentliche Tests könnte hier eventuell verzichtet werden, allerdings wären Abstands- und Hygieneregeln Pflicht, wo sinnvolles Lernen räumlich nicht funktioniert, sollte auch hier ein wöchentliches Testregime eingeführt werden.

Das Tragen von Masken wäre in Innenräumen Pflicht. Zusätzlich sollte bei allen, die Schul- und Unigebäude betreten, die Temperatur standardmäßig gemessen werden (anders als bei kleinen Kindern wären hier Ergebnisse zu erwarten).

Ein solches Set an Maßnahmen sollte analog in der gesamten Wirtschaft eingeführt werden. Zusammen mit den Schulöffnungen könnte das Homeoffice, jedenfalls da, wo es weniger produktiv war, zurückgefahren werden.

[Das Coronavirus in Berlin: Jeden Morgen ab 6 Uhr berichten Chefredakteur Lorenz Maroldt und sein Team im Tagesspiegel-Newsletter Checkpoint über die aktuellsten Entwicklungen. Kostenlos und kompakt: checkpoint.tagesspiegel.de]

Jede Arbeitsgemeinschaft gibt sich selbst sinnvolle Regeln und überprüft sie mit regelmäßigen Tests und Reportings. Wo Probleme auftreten, müssen die Regeln strenger gefasst werden. Bei Berufen mit notwendigem Direktkontakt mit Kunden wie Friseur, Arzt etc. sollte von vornherein täglich getestet werden.

Vorübergehende Schließungen von Betrieben oder Betriebsteilen können nicht ausgeschlossen werden, aber es kommt darauf an, dass wieder alles an so vielen Orten wie möglich so normal wie möglich läuft. Die Testkapazitäten müssen ausreichend und möglichst mobil verfügbar sein (schon jetzt wird bekanntlich am Autofenster getestet), damit Betriebe sich bei Verdacht schnell einen systematischen Überblick verschaffen können.

Allein diese durchgreifende Normalisierung bei Schule, Kita und im Job, möglich vor allem durch systematisches Monitoring, wäre ein riesiger Schritt. Doch dabei müsste es nicht bleiben.

Der selbstbestimmte Schritt, der Schritt ins Unerwartete, der Schlussschritt

Mit Abstand: Besucher genießen in der Coronakrise den Sonnenschein im Stadtpark Schöneberg.
Mit Abstand: Besucher genießen in der Coronakrise den Sonnenschein im Stadtpark Schöneberg.

© Kay Nietfeld/dpa

Der selbstbestimmte Schritt.

Wie verquer bei sonstigen gesellschaftlichen Aktivitäten die notwendigen Abwägungen laufen, zeigen Äußerungen des SPD-Politikers Karl Lauterbach, als Arzt und Epidemiologe ja sogar ein Fachmann. Er wandte sich schon vor den aktuellen Diskussionen gegen Geisterspiele im Fußball, denn die Spieler würden dadurch gefährdet.

Bekanntlich handelt es sich dabei um im Schnitt 25-Jährige, die voll austrainiert und bestens medizinisch betreut sind. Selbst bei einer Ansteckung - wie hoch wäre das Risiko eines schweren Verlaufs?

Die Spieler sollten dies selbst abwägen und entscheiden dürfen – im Einzelfall sollte ein Verein akzeptieren, wenn ein Spieler mit Grundgehalt zu Hause bleiben möchte. Außerhalb des Platzes müssten selbstverständlich sämtliche Regeln von Maske bis Quarantäne im Fall einer Ansteckung eingehalten werden.

Unser Selbstbestimmungsrecht haben wir uns in der Pubertät mühsam erkämpft, wir sollten es uns von Corona nicht leichtfertig entwinden lassen. Wir entscheiden auch sonst selbst, ob wir unvorsichtig viel Alkohol trinken oder eine Risikosportart betreiben.

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Das Selbstbestimmungsrecht findet da seine Grenzen, wo wir andere gefährden. Könnte es daher Umstände geben, unter denen wir Veranstaltungen umgehend wieder erlauben? Klare Regeln also, die das Ansteckungsrisiko denkbar gering werden und jeden einzelnen entscheiden lassen: Das ist es mir wert. Wie könnte so etwas aussehen?

Der Schritt ins Unerwartete.

Bei jedweder Veranstaltung, ob Theater, Fußballspiel, Vortrag oder sogar Club (Hinweis für Berliner gleich vorweg: maximal 12 Stunden am Stück und höchstens einmal die Woche!) wäre ein Dreischritt Pflicht: Man müsste sich vorher (eins) in einem von Experten festzulegenden Abstand (5-7 Tage vorher?) einmal testen lassen, vor Ort (zwei) würde die Temperatur gemessen und in einem festgelegten Zeitraum danach (2-4 Tage danach?) müsste man sich erneut (drei) testen lassen.

Das Verfahren müsste sicher sein, aber jede*r könnte selbst wählen, ob er es jeweils per Ausweis und schriftlichem Nachweis macht oder per amtlicher App (open source) plus Ausweis. Die zweite Variante hätte den Vorteil, dass in der Location die Identität nicht gespeichert, sondern nur manuell kontrolliert werden müsste.

Jede*r müsste akzeptieren, dass er mit einem heftigen Bußgeld belegt wird, wenn er/sie zum Beispiel die Nachkontrolle versäumt oder die Location nachlässig am Eingang war, und jede*r müsste auch vorher einwilligen, behördlich erreichbar zu sein und sich gegebenenfalls in eine kontrollierte Quarantäne zu begeben.

Sicher würde es trotz allem Veranstaltungen mit Einzelfällen und sicher auch mal einen größeren Vorfall geben. Aber wir hätten alle Voraussetzungen, um bei jedem Ereignis eine sofortige, systematische Eindämmungsstrategie zu fahren.

Aber wäre so ein Vorgehen nicht Wahnsinn mit Ansage? Könnte man meinen, aber erstens wissen wir über das Ansteckungspotential des Virus noch wenig, einerseits hören wir von „Superspreadern“, andererseits stecken sich Familienmitglieder im selben Haushalt oft wochenlang nicht gegenseitig an.

Und zweitens, wichtiger noch, gab es Fußballspiele, Karnevalssitzungen, Clubabende, die als Epizentren der Krise gelten, aber auch parallel zig tausend Veranstaltungen, die unauffällig waren, obwohl sehr unwahrscheinlich ist, dass dort überall kein einziger Virusträger anwesend war.

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Vielleicht ergäbe sich unter der geschilderten strikten Kontrolle ebendas: Kontrolle. Man könnte ja zunächst testweise, einige wenige Veranstaltungsstätten, unterschiedliche Arten von Events, vorgehen. Wenn wir merken, dass bestimmte Formen von Veranstaltungen doch nicht kontrollierbar sind, muss man genau diese wieder verbieten.

Angesichts der absehbaren Verwüstungen in Sport, Kultur, ja unserem gesamten gesellschaftlichen Leben mit teils unwiederbringlichen Schäden schon in wenigen Wochen, gebietet es die Verantwortung, nichts unversucht zu lassen und tastend etwas zu wagen. Manche Schritte zur Seite oder auch mal zurück werden sich nicht vermeiden lassen.

So wie ich derzeit nicht daran glaube, unübersichtliche Veranstaltungen wie ein Oktoberfest oder gar mehrtägige Festivals oder auch einen alltäglichen feuchtfröhlichen Barbetrieb wieder zuzulassen (ok, Ausnahme, Antikörperträger*innen dürfen gemeinsam auf ihre privilegierte Stellung anstoßen).

Der Besuch von Bars, Festivals etc. wäre bestenfalls mit einer Totalüberwachung (individualisierte Tracking-Apps mit „chinesischen“ Regeln)  vorstellbar – dafür scheint es mir jedoch bei uns keine Akzeptanz zu geben. Museumsbesuche und ähnliches wie auch ein üblicher Restaurantbetrieb scheinen vertretbar und sollten sofort - mit Abstands- und Hygieneregeln - wieder möglich sein.

Der Schlussschritt.

Mit diesen Schritten ginge viel voran, das Maß an sofortiger Normalität wäre ungleich größer als unter den gegenwärtigen Regeln, Millionen zusätzlicher Jobs wären gesichert – selbst die von manchen verteufelte Bundesliga alimentiert bekanntlich nicht nur überbezahlte Kicker, sondern zehntausende Familien.

Unter den mehr als 55.000 (!) Jobs, die allein an den Fußball-Bundesligen hängen, sind solche wie Greenkeeper, Würstchengriller oder Tresenkraft im Wettbüro. Und wir werden schon genug Geld brauchen für das Auffangen von Branchen wieder Luftfahrtindustrie, wo auch bei angestrengtestem Nachdenken keine Lösung auf der Hand liegt. Wollen wir auch noch Bundesliga-Clubs durchfüttern? Mit welchem Geld?

Neben den sofortigen massiven wirtschaftlichen Vorteilen wären die sozialen und psychischen Schäden bei Kindern und Erwachsenen unvergleichlich viel geringer als derzeit absehbar. Von möglichen politischen Verwerfungen wollen wir hier gar nicht sprechen.

Aber ist denn diese ganze Testerei nicht völlig undurchführbar? Zwar geht es um viele Tests, aber um systematische und nur da, wo es wirklich notwendig oder explizit gewollt ist. Natürlich gestaffelt nach Bedeutung, an erster Stelle also, weit vor jeder Veranstaltung (!), zum Beispiel bei den Pflegekräften. Derzeit wird zehntausendfach am Tag unsystematisch getestet (weniger als zehn Prozent sind positiv), die anderen haben als Tests in nicht klar definierten Gruppen/Räumen wenig Relevanz und Halbwertszeit.

Es geht hier auch nicht um 80 Millionen Tests die Woche, sondern regelmäßig um kleinere Schüler plus Risikogruppen/-situationen plus Veranstaltungsbesucher, denen ihr Fußball, ihr Theater, ihr Konzert, ihr Club so viel wert sind, dass sie dafür gewisse Umstände in Kauf nehmen. Das sind viele, aber das können wir logistisch schaffen.

Selbst mit den von der Bundesregierung geplanten 4,5 Millionen Tests die Woche käme man schon reicht weit. Auf die Privatsphäre und die Ängste vor einem Überwachungsstaat wird, soweit es irgend geht, Rücksicht genommen. Es gilt so oft wie möglich das Prinzip der Freiwilligkeit.

[Der Tagesspiegel will kleineren Unternehmen in der Krise helfen: Nutzen Sie die Situation zur Digitalisierung. Wir helfen Ihnen dabei, online zu gehen: Mit uns gibt es die eigene Website in 48 Stunden - kostenlosen und unkompliziert. Alle Infos gibt es hier. Anmeldung unter: digitalhelfer.tagesspiegel.de]

Warum das alles überhaupt? Weil eine Herdenimmunität bei dem gegenwärtigen Vorgehen selbst nächstes Jahr noch lange nicht erreicht sein wird. Und die Aussicht auf Medikament oder gar Impfung in absehbarer Zeit vage sind, frühestens in einem Jahr sind noch die optimistischsten Annahmen.

Und was machen wir eigentlich, wenn das Virus mutiert? Einen veränderten Test wird man schnell haben, mit der Impfstoffentwicklung geht es dann von vorne los.

Die hier vorgeschlagene Strategie hat en passant noch viele weitere positive Effekte: Sie wird uns auch viel Erfahrung geben, im Umgang mit Tests, Apps, Einschätzung von Risiken. Das alles hilft uns auch bei dem, was wir ohnehin machen müssen: wirkungsvoll eindämmen. Die asiatischen Länder zeigen: Es geht!

Das Ziel kann doch, da hat Professor Michael Meyer-Hermann aus Braunschweig völlig recht, nicht die Reproduktionsrate 1 sein, sondern die 0 muss stehen, jedenfalls idealerweise spätestens im Herbst. Wenn uns das schon im ersten Anlauf im März nicht gelungen ist, sollten wir dies wenigstens im zweiten Anlauf, wenn die Neuinfektionen nur noch kleinere dreistellige Werte aufweisen, endlich schaffen. Dafür liefert mein Vorschlag viele wichtige Bausteine.

Denn nur die Null brächte wirklich wieder Normalität, auch und gerade für die Risikogruppen. Auch bei Risikoträger*innen meine ich übrigens, sollte jeder bei Theater, Restaurant etc. für sich selbst abwägen – sofern er nicht andere gefährdet.

Aber wir sind es diesen Menschen und vor allem denen in Heimen, die diese Entscheidung nicht treffen können, schuldig, dass wir nicht nur eine Kurve flach halten, sondern dass wir die Eliminierung des Virus als baldiges realistisches Ziel anstreben. Vor allem von Demokratien wie Taiwan oder Südkorea können wir lernen. Unsere Performance bisher ist nur teilweise gut. Wir können das besser.

Die Gefahr derzeit: Wir versinken in Selbstbeschäftigungsdiskursen über immer ausdifferenziertere Regeln in Kleingruppenpädagogik, Einzelhandelskonzepten usw. – und währenddessen verlieren wir unsere gesellschaftliche und ökonomische Basis.

Deswegen brauchen wir jetzt große Schritte, nachprüfbare, evidenzbasierte Maßnahmen, die uns „Räume des Vertrauens“ schaffen und damit schnell immer größer werdende „Räume der Normalität“.

Wir mögen über das Virus noch nicht viel wissen, die Verheerungen der Weltwirtschaftskrise vor neun Jahrzehnten kennen wir nur zu genau.

Jan Lerch

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