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Berlin: Ein Tag mit Harry Potter

Wie sich die Obdachlosenzeitungen „Motz“, „Straßenfeger“ und „Stütze“ verkaufen, wenn ein Stück von Joanne K. Rowling drin steht

Freitagabend, 23.30 Uhr: Unter dem Fernsehturm, vor dem Vertriebsbus der „Stütze“, warten knapp 20 Verkäufer in der Kälte. Immerhin, es gibt Würstchen vom Grill. Nach und nach finden sich ein paar Nachtschwärmer und Mütter mit Kindern ein. Die Verkäufer des „Straßenfegers“ vertreiben sich die Zeit bis Mitternacht im Vereinsheim „Café Bankrott“ in der Prenzlauer Allee mit Harry-Potter-Videos. Und in der Notunterkunft Weserstraße 36 in Friedrichshain ist das Hinterhoffest der „Motz“-Verkäufer gut besucht, mit Fackeln vor dem Eingang und Ballons im Hof. In einer halben Stunde soll der Verkauf der Obdachlosenzeitungen beginnen, mit einem Kapitel aus dem neuen Roman „Harry Potter und der Orden des Phönix“ – exklusiv. Das Buch erscheint auf Deutsch erst am 8. November.

Sonnabend, 0.01 Uhr: Die Schiebetür des „Stütze“-Busses fliegt auf, die Verkäufer sind schon ungeduldig. „Franky vom Alex“ ist der erste, der die neuen Hefte in der Hand hält. Die meisten Käufer sind Jugendliche und wollen das Heft unbedingt Freunden mitbringen. Die 19-jährige Sofia hat die englische Ausgabe schon gelesen. „Mal sehen, wie die Übersetzung ist.“ Franky ist seine Hefte in einer Viertelstunde los: Schluss für heute. Andere ziehen mit 300 Exemplaren los.

1.30 Uhr: Der Harry-Potter-Hut hat nichts genützt. „Stütze“-Verkäufer Norbert gibt für diese Nacht auf: Zu wenig Leute vor dem Bahnhof am Alex. Die „Motz“-Party endet mit der Verlosung von Buchgutscheinen. Und beim „Straßenfeger“ ist man überrascht, dass mehr Obdachlose beim Verkauf mitgemacht haben als erwartet.

Sonnabend, 9 Uhr: Schon 100 Exemplare ist der „Stütze“-Verkäufer am Flughafen Tegel losgeworden. „Starverkäufer“ Jens brachte es in der Nacht sogar auf 260 Abnehmer. An den Vertriebsbussen zwischen Ostbahnhof und Zoo stehen die Abnehmer Schlange. Endlich, jetzt geht es richtig ab. Sven setzt in einer Stunde am U-Bahnausgang Friedenau 25 Mal die „Stütze“ ab – „so viel wie sonst in einer Woche“. „Motz“-Verkäufer Ralph wird allein auf den 100 Metern vom Vertriebsbus vor dem Metropol zur U-Bahnstation acht Hefte los. So was hat er in zehn Jahren nicht erlebt.

12 Uhr: Schlagersänger Frank Zander und Schauspieler Frank Lehmann beginnen am Sony-Center die Werbetrommel für die „Stütze“ zu rühren. Hunderte sind gekommen. Neben vielen sehr jungen Lesern kaufen sogar Touristen aus Stuttgart und Köln die Hefte. Zander, der sich für Obdachlose engagiert, sagt, im nächsten Jahr sei sicher die Autorin Joanne K. Rowling selbst dabei.

18.30 Uhr: Zeit für eine erste Bilanz. Von den 20 000 „Motz“-Exemplaren sind rund 8200 verkauft. Von 15000 „Stütze“-Heften gingen schätzungsweise 4000 weg, und vom „Straßenfeger“ (Auflage 20 000) waren bis 16 Uhr 2500 verkauft.

20 Uhr: Andreas versucht mit seinen letzten „Straßenfegern“ noch einmal sein Glück, in der U 2 am Gleisdreieck. Zehn Exemplare pro Stunde, das ist sonst der Schnitt, heute waren es 30. Aber jetzt lässt das Interesse doch spürbar nach. Eine Stunde noch, dann macht er Feierabend.

Till Schröder

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