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Berlin: Eine für alle

Die Liebfrauengemeinde Kreuzberg wird 100. Sie war immer für die Armen da

Sie drängt sich nicht auf, wie sie da steht, eingekeilt zwischen zwei Wohnhäusern. Und doch gehört sie dazu. Die katholische Kirche St. Marien-Liebfrauen hatte es nie leicht: vor 100 Jahren nicht, als man sie in den preußisch-protestantischen Sand setzte, und auch heute nicht, da sie sich dort behaupten muss, wo Kreuzberg besonders muslimisch und besonders arm ist. Den „Steinbruch des Herren“ nannte man Preußen früher in katholischen Kreisen, und um eine Versetzung dorthin bettelte niemand. Als sich Olaf Polossek im Jahr 2000 um die Gemeinde in der Wrangelstraße bewarb, hatte er keinen Konkurrenten.

Der Ausländeranteil im Wrangelkiez liegt bei 40, der der Hartz-IV-Empfänger bei 30 Prozent. Das sind die Voraussetzungen. Und obwohl die Gemeinde 6000 Mitglieder zählt, kann der Pfarrer sonntags froh sein, wenn sich 60 Menschen zum Gottesdienst einfinden. 900 hätten in der neoromanischen Kirche Platz. „Hier muss man jedes kleine Pflänzchen pflegen“, sagt der Pfarrer. Ab und an trifft er sich mit anderen Kollegen aus gutbürgerlichen Gemeinden. Dann merkt er erst, wie sehr er mittlerweile Kreuzberger geworden ist. Denn wenn es um Themen geht wie „Kann man einen Protestanten zur Kommunion zulassen?“, kann er nur müde lächeln und erzählt von der Kita der Gemeinde, in der deutsche, türkische, indische, vietnamesische, afrikanische, arabische, polnische und iranische Kinder gemeinsam lärmen und lernen. Oder er erzählt die Geschichte der Dreifachtaufe vor einigen Jahren: Der erste Täufling war Sohn einer esoterisch angehauchten Jüdin und eines konfessionslosen Theaterregisseurs, der zweite hatte einen afrikanischen Muslim als Vater und eine bayerische Katholikin als Mutter, und die Verwandten des dritten waren „polizeibekannt“. „Um hier bestehen zu können, müssen wir eine Kirche sein, die sich über die Grenzen der Gottesdienstbesucher hinaus öffnet. Wir müssen uns den Problemen hier stellen“, sagt der Pfarrer. Was das neben dem interreligiösen Dialog heißt, kann man jeden Tag gegen drei Uhr nachmittags auf dem Kirchenhof sehen, denn dann öffnet sich vorne links die kleine Luke der Suppenküche.

1984 holte der damalige Pfarrer die Schwestern vom Orden der Mutter Theresa hierher, um den Armen zu helfen. Der Aufschrei war groß: Kreuzberg sei doch nicht Dritte Welt, und eine Suppenküche, das sei Sozialarbeit aus dem 19. Jahrhundert. Die fünf Nonnen mit ihren weiß-blauen Saris gehören mittlerweile zum Straßenbild, und für die meisten der 100 bis 200 Menschen, die täglich hierherkommen, ist der Teller Suppe immer noch die einzige warme Mahlzeit des Tages. So wie der Mittwochskaffee im Gemeindesaal für viele eine der wenigen Möglichkeiten ist, sich zu unterhalten.

Manfred Wenzel kocht ihn seit 15 Jahren, ehrenamtlich. Hier wird nicht gefragt, ob einer einen Job hat oder eine Wohnung. „Die schlagen sich drüben bei den Nönnekens den Bauch voll, und dann kommen se zu uns uff ne Tasse Kaffee“, sagt Wenzel. Neben der Tür hängt ein Kruzifix und erinnert daran, dass man sich in einer Kirche befindet. Und dennoch: „Die religiöse Komponente hier ist null. Wir fragen nicht danach, was die Leute glauben.“ Wenn man mit Jürgen Bornschein ins Gespräch kommt, wird klar, was der Mittwochskaffee für die Menschen bedeutet. Er sitzt da, zwei Pullover, ein Jacke darüber, und erzählt, wo seine Freunde wohnen. So nimmt er einen mit auf seine tägliche Reise durch Berlin, von Spandau bis Schönefeld. „Es tut gut“, sagt er, „ab und an zu reden.“

Ob Kardinal Georg Sterzinsky am heutigen Sonntag auf ihn treffen wird, ist nicht klar. Jürgen Bornstein weiß noch nicht, ob er am Festgottesdienst zum hundertsten Geburtstag der Kirche teilnimmt. „Vielleicht bin ich bei meinem Bruder in Spandau“, sagt er. Aber zum Mittwochskaffee wird er wieder da sein.

Jubiläumsgottesdienst, 10 Uhr, St. Marien-Liebfrauen, Wrangelstraße 50.

Peter Kasza

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