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Berlin: Eine Klasse voller Chefs

Individuelles Lernen und das Übernehmen von Verantwortung wird an der Nürtingen-Schule groß geschrieben – im Zeichen von Montessori

Von Ursula Engel

Die Schule. Die Nürtingen-Grundschule ist ein Idyll: Bäume, Spielplatz, großer Pausenhof. Doch sie liegt in einem sozialen Brennpunkt: 1998 waren 86 Prozent der 400 Grundschüler Migrantenkinder mit schlechten Sprachkenntnissen. „Selbst die Familien, die gern in der multikulturellen Mischung Kreuzbergs leben, entschieden sich gegen uns", sagt Schulleiter Gerd-Jürgen Busack.

Vor acht Jahren ging man daran, nach neuen Konzepten zu suchen. Zwei Lehrer machten den Anfang. Sie absolvierten eine Montessori-Ausbildung, der Frontalunterricht wurde nach und nach abgeschafft. Heute verfügen elf der 29 Lehrer über eine solche Qualifikation. Die Schule engagiert sich in der Behindertenintegration und der Sprachförderung. Seit einigen Jahren sind die Lehrer mit ihren Konzepten auf Werbetour durch die umliegenden Kitas – mit Erfolg. Immer mehr deutschsprachige Familien schicken ihre Kinder heute wieder in diese Schule. Der Ausländeranteil liegt bei 74 Prozent. „Unser Ziel ist es“, sagt Bussack, „die reale Kreuzberger Mischung von 60 Prozent ausländischen und 40 Prozent deutschstämmigen Kindern zu erreichen.“

Das Besondere. Die Nürtingen-Grundschule hat ihren Schulbetrieb inzwischen fast vollständig umgestellt. In jeweils zwei der drei Jahrgangsklassen wird jetzt auf Montessoripädagogik und Behindertenintegration gesetzt. Schwache und starke Schüler besuchen eine Klasse. „Das fördert die Hilfsbereitschaft und Rücksichtnahme der einen, fordert die anderen heraus an ihre körperlichen und intellektuellen Grenzen zu gehen“, sagt Maria Schmitz (50). Sie ist Klassenlehrerin der 4a, einer Integrationsklasse.

Blick in den Sportunterricht: Drei Mädchen balancieren über den Schwebebalken. Yasin (11) freut sich, dass er es aufs Rollbrett schafft, was aufgrund seiner Muskelschwäche eine große Leistung ist. Jakob (9) spielt mit drei anderen Jungen am rechten Seitenkorb Basketball, andere schwingen sich an den Seilen. Ein großgewachsener türkischer Junge kann sich nicht mehr beherrschen. Laut donnernd schießt er den Fußball an die Hallendecke. Maria Schmitz bläst schrill auf der Trillerpfeife. Der Junge hebt den Kopf, blickt in Richtung seiner Lehrerin und legt den Ball weg. Fast vier Jahre hat die Lehrerin gemeinsam mit der Sonderpädagogin Maria Linkemeyer (39) daran gearbeitet, dass die Regeln in ihrer Klasse eingehalten werden. „Inzwischen klappt es sehr gut“, sagt die Klassenlehrerin. Der Weg dahin war lang. In der 4a wird in kleinen Gruppen, aber auch in Einzelbetreuung gelernt. Bei höchstens 25 Kindern und zwei Lehrern pro Klasse wird das möglich. Nur so kann eine der Lehrerinnen Yasin dabei helfen, den Zahlenraum bis 100 zu erarbeiten, während der neunjährige Jakob Matheaufgaben der sechsten Klasse löst. Neben dem klassischen Lernstoff spielen soziales Verhalten und Verantwortung eine große Rolle. Um das zu trainieren, wurde ein System von Diensten aufgebaut. „Hier bei uns sind alle Kinder Chefs“, sagt Gerd-Jürgen Bussack. Nach drei Monaten werden die Dienste getauscht. Jakob ist zur Zeit Fahrradchef. Und hat dafür zu sorgen, dass in dem Fahrradraum Ordnung herrscht. Besondere Qualitäten muss man für den Chefdienst nicht haben. Jeder macht seinen Job, so gut er es vermag.

Bis 2005 will man an der Nürtingen- Grundschule neben jahrgangsübergreifendem Lernen das System einer Ganztagsschule einführen. Gleichzeitig hofft das Kollegium auf ein wachsendes Engagement der Eltern. Bussack glaubt nicht an Wunder, aber er ist optimistisch. „Noch vor fünf Jahren waren beim Elternabend oft nicht genug anwesend, um die Elternsprecher zu wählen. Heute sind die Versammlungen voll.“

Kosten. In den Integrationsklassen wird für jedes als behindert eingestufte Kind – maximal vier pro Klasse sind möglich – eine zusätzliche Sonderpädagogin mit 4,5 Wochenstunden eingesetzt. Das finanziert der Staat. Die Lehrer selbst werden ebenfalls zur Kasse gebeten. Sie zahlen die Montessori-Zusatzausbildung selbst – etwa 1000 Euro.

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