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Berlin: Eine lustvolle Reise durch den Theater-Archipel Berlin Warum CDU-Chef Stölzl von der Kulturlandschaft begeistert ist

Von Christoph Stölzl Von Somerset Maugham, dem großen Geschichtenerzähler der späten Kolonialzeit Englands, weiß man, dass eine seiner liebsten Beschäftigungen das Studium von Reiseführern, von Dampfer-Fahrplänen und vor allem der Handbücher der königlich britischen Admiralität gewesen ist. Maugham war selbst viel im Orient gereist.

Von Christoph Stölzl

Von Somerset Maugham, dem großen Geschichtenerzähler der späten Kolonialzeit Englands, weiß man, dass eine seiner liebsten Beschäftigungen das Studium von Reiseführern, von Dampfer-Fahrplänen und vor allem der Handbücher der königlich britischen Admiralität gewesen ist. Maugham war selbst viel im Orient gereist. Anders als Karl May, der sich seine Abenteuer in Deutschland aus den Fingern gesogen hatte, wusste Maugham also, wovon er las. Aber ihm war natürlich bewusst, dass ein Schriftstellerleben nicht ausreichte, um all die Plätze selbst zu sehen, und gar dort zu leben, an denen es ihn verlockte, dort Menschenschicksale kennen zu lernen und dann auch noch Geschichten zu schreiben, die glaubwürdig dort spielten. Darum liebte er es, im feuchten und kalten London zu sitzen und sich die Phantasie anregen zu lassen durch märchenhafte n, durch den Vorgeschmack von exotischen Kulturen, wie sie die Sightseeing-Tipps in sich bergen.

An Maughams imaginäre Reisen bin ich erinnert worden beim Studium der Druckfahnen dieses Theaterführers. Ist Berlin nun ein Kontinent, oder ein Globus der Kultur? Vielleicht kommt man dem Phänomen am nächsten, wenn man einen Vergleich wählt, der gleichermaßen Festland wie ungewisses Wasser einbegreift. Sagen wir also: Hier wird der Theater- und Musik-Archipel Berlin vermessen in einer historisch-kritischen Kartographie. Und als Anhang zum Kartenteil sind, ähnlich wie bei Somerset Maughams Kursbüchern, Verlockungen ausgesandt, selbst das Schiff zu besteigen und dann all dem Vielversprechenden mit eigenen Augen und Ohren zu begegnen. So weit, so gut.

Man beginnt dann mit der Durchsicht der Ereignisse der nächsten Saison. Da sind sie, tief ins nächste Jahr hinein reichend, schwarz auf weiß gedruckt in einer unerschütterlichen Zukunftsgewissheit, als hätte immerhin schon die Generalprobe stattgefunden. Unterm Ankreuzen dessen, was a) man denn nicht missen darf, was b) keinesfalls versäumt werden kann, was c) bestehen und angehört werden muss, weil es schlechthin ein "must" ist, schließlich dessen, was d) dunkel und schwer verständlich, aber immerhin viel versprechend aussieht und schon deshalb, auch auf die Gefahr der Enttäuschung hin dennoch angeschaut werden muss - unterm Anstreichen und Notizen-Machen also und unterm vergewissernden Kalenderblick, was kommt heraus?

Was mich anbetrifft, zweierlei. Zuerst ein Gefühlsamalgam, gemischt aus Theatererinnerungen und Vorfreude, aus Theaterlust und Stolz auf die Unerschöpflichkeit Berlins. Macht uns das jemand nach? Das macht uns niemand nach, nicht in Deutschland, vielleicht auch nicht in Europa. Sind wir damit wieder bei der Berliner Untugend der Großsprecherei? Bescheiden sind nur die Lumpen, hat Goethe gesagt. Daran halten wir uns, wenn wir uns unbescheiden freuen am großen Kulturstrom Berlins mit seinen vielen Zu- und Nebenflüssen.

Wenigstens etwas, das sich unbestritten machtvoll bewegt in der deutschen Hauptstadt. Und dann, zweitens, daneben, die Stimme der Kalender-Vernunft: Wer um Himmels willen würde das nicht hören, sehen, erleben können? Müsste man nicht schnurstracks den Beruf wechseln, Theater- und Musikkritiker werden, um dieser Freuden auch nur annähernd teilhaftig zu werden? Wie viele Kritiker-Leben müsste man haben, um auch nur eine hinlängliche, oberflächliche Kenntnis vom Archipel Kultur Berlins zu bekommen? Und wieder fällt einem Weltliteratur ein: Das hundertste Kapitel von Robert Musils „Mann ohne Eigenschaften". Darin bestritt der General Stumm von Bordwehr die Österreichische Nationalbibliothek, um einen Einblick in das Wesen der Bildung zu gewinnen.

Herumgeführt in den Magazinen wird durch den Direktor des Hauses. Der General fragt, er rechnet, er erkennt, dass er Jahrzehnte unentwegt würde lesen müssen, um auch nur den ersten Anschein einer gediegenen Allgemeinbildung zu bekommen. Er betrachtet fassungslos den Bibliotheksdirektor und fragt ihn, wie er denn es anstelle, über den Millionen von Büchern nicht den Verstand zu verlieren? Und der Bibliothekar antwortet ihm: Exzellenz, in dem ich nie weiter lese als bis zum Titelblatt. Bewusste Abstinenz als Ausweg, nicht erdrückt zu werden vom Überfluss der Kultur?

So weit in Gedanken gekommen, ruft das Stichwort „Ignoranz" beim Lesen des Theaterführers auch Unmut herauf auf die Berliner Lokalpolitik, die nun schon das zigste Jahr die Augen verschließt vor dem Reichtum, der da vor ihren Augen offen daliegt und den dankbar aufzuheben noch kein Berliner Landesparlament geschafft hat. Rätseln auch über die Bundesrepublik, früher vulgo „Bonn" geheißen, dass sie den Blumenkranz, den sie vermittels der Hauptstadtkultur sich spielend aufs prosaische Haupt hätte drücken können, bisher mit spitzen Fingern angefasst hat.

Aber das sind negative Nachtgedanken: Wir blättern wieder im „Spielplan Berlin" und freuen uns, dass er den großen Atem aufbringt, die Theater und Orchester, die Säle und Hinterzimmer der Kunst nicht nur mit dem „Daumen rauf, Daumen runter" des aktuellen Feuilletons zu sichten, sondern mit großem Atem an die anderen, die älteren Gesichter, Stimmen und Klänge erinnert. Sie sind für alle, die Augen haben zu sehen und Herzen, zu fühlen, in Berlins Kunst-Gehäusen noch lebendig. Im Konzerthaus zu sitzen und sich daran zu erinnern, dass hier Nationalgeschichte geschehen ist, solche und solche, ist das überflüssig oder notwendig? Dass hier der „Freischütz" zum ersten Mal erklungen ist. Dass hier am 50. Gedenktag des 8. Mai 1945 Francois Mitterrand, todkrank schon, eine ergreifende Rede gehalten hat?

Solche Erinnerungen, sind sie nun unnützer Ballast oder vielmehr gerade der Gedächtnis-Luxus, der Berlin erst zu Berlin macht? Im Gorki-Theater während der Pause die moskowitische Prachtausstattung der 1950er Jahre im Treppenhaus zu bestaunen und sich zu erinnern, dass hier einst einer der wenigen Duzfreunde Goethes, der musikalische Bauunternehmer Zelter, die bürgerliche Musikkultur Berlins ins Leben rief. Dass Felix Mendelssohn-Bartholdy hier die Matthäus-Passion wieder entdeckt hat. In der Komischen Oper nicht nur Felsensteins Genie zu gedenken und der Weltrevolution des Musiktheaters, die von diesem Saal ausging, sondern in viel fernere Zeiten zu schlüpfen und sich in die Uraufführung von Lessings „Nathan der Weise" hineinzuphantasieren. Endlos könnten wir so weiterfragen. Und lang würde der innere Monolog des „Weißt Du noch?", wenn wir uns die erhebenden oder enttäuschenden Kunsterlebnisse erzählen wollten, die wir selbst mit den Orten dieses Kalenders verbinden.

Ich bin dankbar, dass ich dieses Buch in den Händen halte. Es ist der Schlüssel zu Aladins Höhle der Berliner darstellenden Künste.

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