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Berlin: „Eine Prüfung, die alle bestehen, ist keine“

Bildungssenator Klaus Böger (SPD) spricht zum Ende des Schuljahrs über das Positive am Rütli-Schock, den erstmals zentral durchgeführten mittleren Schulabschluss und seltene Worte in Mathematikarbeiten

Am Mittwoch beginnen die großen Ferien. War das vergangene Schuljahr für Sie ein Horrorjahr?

Nein. Das war kein Horrorjahr. Das war ein brisantes und herausforderndes Schuljahr. Aber kein Horrorjahr.

War das ein Rütli-Jahr oder ein Reformjahr?

Das war ein Reformjahr. Rütli ist kein Weckruf für mich gewesen, aber eben ein Alarmsignal, das medial stärker war als die konkrete Realität vor Ort. Das Problem von Schülerinnen und Schülern aus bildungsfernen Schichten ist uns lange bekannt.

Hat der Rütli-Schock nur eine negative Seite?

Nein, das hat auch etwas Positives. Das Positive ist, das sich bei allen – auch bei denen, die nicht unmittelbar mit Bildung zu tun haben – der Blick etwas geschärft hat für die reale gesellschaftspolitische Situation. Und für meine Politik hat es dazu geführt, dass alle Hauptschulen nicht erst zum Januar 2007, sondern spätestens zum August 2006 Sozialarbeiter bekommen werden. Die Sozialarbeiter waren übrigens lange vor Rütli geplant.

Heißt das, dass Ihre Politik im Senat einen Schub bekommen hat, weil man gemerkt hat, dass die gesellschaftlichen Probleme so groß sind?

Das Problembewusstsein ist bei vielen gewachsen. Deshalb habe ich durchsetzen können, dass die besonders belasteten Schulen 50 Lehrer bekommen haben. Haushaltspolitische Zwänge bleiben allerdings.

Aber ist es nicht ein Armutszeugnis, dass Sie die Sozialarbeiter nicht vom Senat zugebilligt bekamen, sondern nur dank EU-Mitteln einstellen konnten?

Nein, das ist kein Armutszeugnis. Die Bundesrepublik zahlt in die EU ein, und wir wären doch verrückt, wenn wir die EU-Mittel nicht nutzten. Das ist ein Einstieg. Aber Politik geht ja immer weiter.

Wir hatten den Pisa-Schock und den Rütli-Schock, die zeigen, dass wir die Schule lange Jahre vernachlässigt haben. Ist es Ihnen nicht gelungen, rechtzeitig in die Politik einzubringen, dass sich da Probleme zusammenballen?

Wir haben jetzt den Problemschock, aber die Ursachen liegen lange Zeit vorher. Ich trage gestalterisch Verantwortung seit dem Schuljahr 2000/01. Die Koalition hat die notwendigen Reformen durchgesetzt. Das wird auch weithin anerkannt. Auf Pisa haben wir geantwortet mit Qualitätssicherung, verbindlichen Standards, Vergleichsarbeiten, Fortbildungsoffensive, Kita-Bildungsprogramm, Sprachausbildung. Reformen brauchen Zeit. Wir befinden uns in einem Prozess, Auseinandersetzungen sind in dieser Phase doch natürlich. Und bei aller Kritik: Wir haben endlich eine neue Kultur, die allen zeigt, wie wichtig Bildungspolitik fürs Land ist.

Was sind die Erfolge dieses Jahres?

Alle Grundschulen haben bis 13.30 Uhr verbindlichen Unterricht oder Betreuung, haben einen Hort zugeordnet bekommen und dabei ist das vorausgesagte Chaos ausgeblieben. Es ist deutlich geworden, dass sich viele Schulen als Ganztagsgrundschule begreifen und auf dem Weg dorthin sind. Wir haben mit den Schulinspektionen begonnen, haben den ersten mittleren Schulabschluss für die Zehntklässler zentral durchgeführt, und die Arbeit an den Schulprogrammen steht vor dem Abschluss. Auch all dies ist Ausdruck einer neuen Form der Schulkultur.

Erschwert wurden die Reformen doch auch dadurch, dass zeitgleich die Arbeitszeit der Lehrer heraufgesetzt wurde. Ärgert es Sie nicht, dass Sie für diese Sparmaßnahme bis heute der Buhmann sind, während diejenigen, die die Mehrarbeit durchgesetzt haben, Klaus Wowereit und Finanzsenator Thilo Sarrazin, bessere Popularitätswerte haben als Sie? Frustriert das nicht?

Ich bin nicht ununterbrochen ein Held, aber ich nehme meine herausfordernde Aufgabe gerne an. Im Übrigen: Der Senat hat erfolgreich gearbeitet. Die Lehrer-Mehrarbeit war leider unabweisbar.

Sind Sie bereit, nach der Wahl im Herbst weiterzumachen?

Lassen sie mal getrost die Wählerinnen und Wähler entscheiden. Ich bin zuversichtlich. Ich bin und bleibe leidenschaftlich für Bildung engagiert.

Manche Lehrer klagen, Sie hätten von ihnen zu viele Reformen auf einmal verlangt. Sind die Pädagogen weinerlich?

Auch so etwas kann es geben. Die Berliner Lehrerschaft ist in der ganz großen Mehrheit mit einem hohen Engagement bei der Arbeit. Aber sie erleben eine Zerreißprobe: Veränderte gesellschaftliche Bedingungen, mehr Qualitätsforderung, mehr Arbeit, weniger Geld, hohes Durchschnittsalter – das sind schwierige Bedingungen. Aber nach Pisa konnte man ja nicht „weiter so“ sagen.

Jetzt gab es die ersten zentralen Prüfungen zum mittleren Schulabschluss. In Mathematik sind sie so schlecht ausgefallen, dass es Forderungen gibt, die Zensierung zu ändern. Tun Sie das?

Nein. Das kommt nicht in Frage. Die Gesamtübersicht liegt noch nicht vor. Selbstverständlich muss man sicherstellen, dass das Fortbildungsangebot auch realisiert wird. Und natürlich muss ein seltenes Wort wie „Maische“ nicht im Text zu einer Mathematikaufgabe vorkommen. Das führte nur zu Missverständnissen.

In diesem Jahr ist es so, dass man den mittleren Schulabschluss wegen einer einzigen Sechs verpasst – egal wie gut die anderen Prüfungen und Jahreszensuren sind. Muss das sein?

Wir denken darüber nach, diesen Punkt zu ändern. Allerdings muss man auch sagen: Eine Prüfung, die alle bestehen, ist keine.

SPD und PDS haben auf ihren Parteitagen Modellversuche für Gemeinschaftsschulen gefordert – und zwar gleich. Tut sich da schon was?

Noch hat sich keine Schule gemeldet, die das machen will. Die Ansätze sind übrigens nicht identisch. Wir sind für einen behutsamen Weg, der alle Eltern mitnehmen will.

Wird es klappen, wie geplant in allen siebten Klassen den neuen Ethik-Unterricht anzubieten?

Ja. Bisher sieht es so aus, dass nur sechs Schulen keine eigenen Ethiklehrer haben, sondern dass Lehrer anderer Schulen dort hinkommen.

Noch mal zum Anfang zurück. Wir hatten in diesem Jahr schlimme Vorfälle an Schulen. Haben wir die Probleme jetzt erkannt, oder müssen wir im neuen Schuljahr mit weiteren derartigen Horrormeldungen rechnen?

Auch wenn wir alles tun, was denkbar ist, kann es immer wieder solche Vorfälle geben. Eine Wunderlösung gibt es nicht. Aber ich habe jetzt durchgesetzt, dass bei besonders problematischen Schülern eine Jugendhilfekonferenz tagen muss: Schule und Jugendamt und möglichst auch der Polizei-Präventionsbeauftragte müssen den jungen Menschen betrachten mit all seinen Daten. Und wenn es für den Jugendlichen an allgemein bildenden Schulen nicht geht, müssen wir andere Möglichkeiten finden. Das bedeutet nicht, dass ich alle die Jugendlichen auf eine bestimmte Sonderschule schicke, sondern dass ich auf einer Schule ein paar Plätze habe und ansonsten Schüler auch in Einrichtungen nach Brandenburg oder in andere Bundesländer schicke. Und im Übrigen haben wir jetzt bundesweit die Diskussion des Gesetzgebers über die Einschränkung des Sorgerechts, wenn Eltern systematisch versagen.

Haben wir genug Lehrer zum kommenden Schuljahr?

Ich habe das Ziel, dass wir fünf Prozent Vertretungsreserve haben. Aber wegen der vielen Dauerkranken, die in dieser Reserve mitgerechnet werden müssen, kann es an der einen oder anderen Stelle knapp werden.

Das Gespräch führten Gerd Nowakowski und Susanne Vieth-Entus.

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