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Berlin: Eine Waffe namens WT1

Die Krebsimpfung ist kein Traum mehr: An der Charité geben Ärzte Spritzen gegen Leukämie. Und der Wirkstoff hilft nun sogar akut Erkrankten. Ein Besuch in der Ambulanz

Hans-Joachim Pozdena spricht von seiner Ärztin wie von einem Engel. Als er, der Leukämiekranke, sie, die Forscherin, kennen lernte, hatte sie die gute Nachricht für ihn: Er habe zwar eine spezielle Form der Leukämie, des Blutkrebses, aber: Gegen die könne sie eine Behandlung mit einem Impfstoff versuchen. Damit könnte er seine Krankheit vielleicht nicht besiegen, aber doch kontrollieren, verzögern. Weiterleben. Erst mal ohne Chemotherapie. Ohne deren Nebenwirkungen: Lungenentzündung und Infektionen. Ein Erfolgsversprechen hat Carmen Scheibenbogen, Professorin an der Charité, ihm damals zwar nicht geben können, weil es den Impfstoff bisher nur in einer klinischen Studie gibt. Aber er habe eine Perspektive. Bei anderen Patienten, die wie er eine Leukämieform hätten, die sich auffällig langsam ausbreitet – myelodysplastisches Syndrom genannt –, hätte der Impfstoff zur Rückbildung oder zum Stillstand der Krankheit geführt. Sie ist in Blut und Knochenmark nicht mehr nachweisbar.

Jetzt sitzt Hans-Joachim Pozdena, 61 Jahre alt, wie jede zweite Woche im Behandlungszimmer der Impfambulanz in der Klinik für Hämatologie und Onkologie am Campus Benjamin Franklin. Der Rentner hat ein leicht gebräuntes Gesicht, sein hellblaues Hemd ist noch bügelfrisch steif, der Bart ordentlich gestutzt. Im Herbst ging es ihm noch so schlecht, dass er nur auf dem Sofa liegen wollte, aber nun wirkt er tatendurstig und gesund. Er fühlt sich jetzt fitter und hat begonnen, seinen Garten umzugraben. Seit Mitte Januar bekommt er regelmäßig eine Spritze mit dem Impfstoff. Aber leukämiekrank ist er immer noch.

Er ist gekommen, um seine Blutwerte kontrollieren zu lassen; noch haben sie sich nicht verbessert. An ihnen ist abzulesen, wie weit die Krankheit fortgeschritten ist. Bei der Leukämie mutiert das Blutbild: Zu viele weiße Blutkörperchen verändern sich, zu wenige funktionieren. Sie können ihre Polizeifunktion im Körper nicht mehr so erfüllen wie vorgesehen; die weißen Blutkörperchen bilden das Abwehrsystem des Körpers. Deshalb sind Leukämiekranke anfällig für Infekte. Außerdem haben sie zu wenige rote Blutkörperchen, die für den Sauerstoff- und Kohlendioxidtransport zuständig sind. Unzureichend mit Sauerstoff versorgt, fühlt sich der Kranke matt. Ebenso gibt es zu wenige Blutplättchen, die für die Wundheilung zuständig sind, was Nasenbluten und blaue Flecken verursacht, Wunden heilen schlechter. Deshalb bekommen Carmen Scheibenbogens Patienten zusätzlich zur regelmäßigen Impfung auch Infusionen mit Blutplättchen.

Der Studie, an der Hans-Joachim Pozdena teilnimmt, ist eine kleine Sensation vorausgegangen: Eigentlich hatten die Charitéforscher, die Professoren Ulrich Keilholz, Carmen Scheibenbogen und Eckhard Thiel, nach einem Mittel gesucht, dass den Rückfall von Leukämiekranken nach einer Chemotherapie verhindert. Das ist nämlich die tückische Phase der Krankheit, an der in Deutschland jedes Jahr 10 000 Menschen erkranken. Obwohl die Chemotherapie die Krankheit bei 80 bis 90 Prozent aller Patienten verschwinden lässt, kommt es bei 60 Prozent zum Rückfall. Dagegen wollten die Forscher etwas tun. Die Impfung sollte vor dem Neuausbruch schützen. Und jetzt wirkt sie unter Umständen sogar bei akut Leukämiekranken.

Im Sommer 2003 hatten sie die Erprobung der Impfung an Patienten in einer klinischen Studie gestartet, mittlerweile wurden 26 Patienten behandelt. „Es funktioniert wie bei einer Impfung gegen Grippe“, sagt Carmen Scheibenbogen, „das Immunsystem lernt, einen Grippevirus oder eben in unserem Fall eine Leukämiezelle zu erkennen und zu zerstören.“ Dafür mussten die Forscher eine mögliche Angriffsstelle in der Tumorzelle finden, um den Abwehrzellen ein Detail als Ziel geben zu können, sozusagen. Das musste etwas sein, was für die Tumorzelle einerseits so wichtig ist, dass sie es nicht durch Mutationen verlieren kann – gleichzeitig durften gesunde Zellen diesen Baustein nicht haben, weil sie sonst ebenfalls von den auf dieses Detail „programmierten“ Abwehrzellen attackiert würden. Diese spezielle Stelle fanden die Forscher in einem Eiweißmolekül, genannt WT1 („Wilms-Tumor-Antigen“). Das Molekül hat eine wichtige Aufgabe in der Tumorzelle: Es steuert die Bildung von mehr als 200 weiteren Eiweiß-Strukturen. Manche davon stimulieren die Teilung der Tumorzelle, bestimmen also über das Tumorwachstum.

Es war Eckhard Thiel, der Chef von Carmen Scheibenbogen, der WT1 erstmals gefunden und vor 16 Jahren in der Zeitschrift „Nature“ beschrieben hat. Vierzehn Jahre nach der Entdeckung des Eiweißmoleküls gelang es dann, einen Impfstoff auf seiner Grundlage zu entwickeln. Carmen Scheibenbogen ist Immunologin, sie weiß, wie man einen Impfstoff herstellt, deshalb kam sie vor acht Jahren aus Heidelberg an die Charité. Sie war zum Beispiel dafür zuständig, die richtigen „Hilfsstoffe“ für die Injektion zu finden. Diese braucht man als Gefahrensignal: Sie sollen das Immunsystem aufscheuchen – im übertragenen Sinn sollen sie den Immunzellen zurufen: „Kommt alle her, hier ist etwas los!“ Einer dieser Hilfsstoffe ist ein synthetisch hergestelltes Hormon. Der Körper setzt es bei Infekten ein, um bestimmte Zellen des Immunsystems anzulocken. „Wir spielen dem Körper also eine Immunreaktion vor“, erklärt Carmen Scheibenbogen. Deshalb hat Hans-Joachim Pozdena auch nach jeder Impfung eine rote, geschwollene Beule auf dem Oberschenkel; die Zusatzstoffe provozieren eine Entzündung. Je mehr Abwehrzellen kommen, um so größer die Wahrscheinlichkeit, dass die eine darunter ist, die den Fremdkörper als feindlich erkennt. Ist dies geschehen, teilt sich diese Abwehrzelle rasant und sucht im Körper nach Zellen, die WT1 auf der Oberfläche tragen – das Merkmal der Tumorzelle. Finden sie die, lösen sie die Tumorzelle auf.

„Bei der allerersten Patientin, die wir behandelt haben, ist in Blut und Knochenmark gar keine Leukämie mehr nachweisbar“, sagt Carmen Scheibenbogen. Trotzdem erhält die Frau weiterhin Injektionen, denn man muss immer davon ausgehen, dass irgendwo im Körper unentdeckt noch Tumorzellen ruhen. Carmen Scheibenbogen ist es wichtig, zu betonen: Die Chemotherapie ist das effektivste Mittel gegen Leukämie. Die Impfung ist nur Zusatz oder eben Vorbeugung gegen eine Wiederkehr der Krankheit nach der Chemotherapie. Und eine nicht mehr nachweisbare Leukämie, wie bei der ersten Patientin, das sei natürlich ein Idealfall, sagt Scheibenbogen. Man könne nicht grundsätzlich davon ausgehen, akut Erkrankte durch die Impftherapie zu heilen. „Bei einem Drittel aller Studienteilnehmer ließ sich die Leukämie aber anhalten oder zurückdrängen.“

Carmen Scheibenbogen hofft, dass die Entwicklung des Impfstoffs 2010 so weit ist, dass sich die Industrie dafür interessiert, damit er als Arznei zugelassen werden kann. Eine Impfung gegen Krebs, das ist kein Wunschtraum mehr. „Verschiedene Arbeitsgruppen forschen an Wirkstoffen gegen unterschiedliche Tumore“, sagt Carmen Scheibenbogen. Es wird zukünftig zwar keine Allzweckspritze gegen Krebs geben, wohl aber Präparate gezielt gegen einzelne Krebsarten.

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