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Berlin: Einer gegen alle: König Kasparow lässt die Gegner zittern

„Schildkrötenartig hinstellen und warten, bis er dich alle macht.“ Gunnar, mein schachkundiger Bekannter, hatte klar zur Defensive geraten.

„Schildkrötenartig hinstellen und warten, bis er dich alle macht.“ Gunnar, mein schachkundiger Bekannter, hatte klar zur Defensive geraten. Ich hätte auf ihn hören sollen.

Garri Kasparow tritt auf, der größte Schachspieler aller Zeiten. Ein blaukariertes Jackett hat er angezogen. Seine dunklen Augen fahren über die Reihen seiner Gegner. Er fokussiert die Bretter, die Namenskarten, die Menschen dahinter erreichen seine Blicke nicht. Wir befinden uns in der 5. Etage des KaDeWe, ganz hinten in der Ecke zwischen Edelgardinen und Halogenleuchten. 24 Tische, 24 Spieler, dahinter zwängt sich das Publikum.

Herr Spargel von der Firma Saitek (die haben den Schachcomputer gebaut, für den Kasparow Werbung macht) bittet, „fair“ zu spielen und aussichtslose Partien nicht unnötig in die Länge zu ziehen. Kasparow steht am Rand und spitzt den Mund, um leise zu flöten. Das ist nur ein psychologisches Manöver. Dann beugt er sich über das erste Schachbrett. Er fasst jede seiner Figuren an, dreht sie ein wenig, justiert ihre Position auf dem Feld – und zieht den ersten Bauern. Das Ritual wiederholt sich. Es ist, als ob Kasparow seine Tastsensoren mit jedem Spielbrett neu vernetzen muss. Beim Ziehen schiebt er nicht einfach eine Figur weiter; er packt einen Läufer, fliegt mit ihm über das Brett und setzt ihn mit einem deutlichen Klack wieder ab. Er spielt nicht, er greift an.

Die erste Runde absolviert Kasparow fast im Laufschritt. Er drückt aufs Tempo und schlägt, was schlagbar ist. Für meinen Bauern opfert er seinen – ebenso geht es unseren Damen. Ich bin entsetzt. Als treusorgender Spieler sind mir alle Figuren sehr wertvoll, doch Kasparow, der Wolf, hat keine Skrupel. Nachdem sein Pferd meine Bauernreihe durcheinandergewirbelt hat, wirft er seine Läufer in die Schlacht. Viele Figuren kommen dabei um. Meine Schwarzen geraten etwas in Panik und setzen bei Zug 15 zu einem schlecht durchdachten Gegenangriff an. Ein Pferd gerät in Kasparows Turmbahn und wird geschlagen – leider ohne Gegenleistung. Bei meinem Nachbarn Christian, 7 Jahre alt, sieht die Gefechtslage erheblich freundlicher aus. Hinter mir tuscheln schon die Experten. Nur nicht aufgeben!

An einigen Tischen kommt Kasparow richtig ins Grübeln. Er stützt seinen Ellbogen auf, beißt sich auf die Lippen und legt den Kopf schief. Seine Augen wandern nervös über die Stellungen. Bei Jens-Uwe Jaeschke, einem Clubspieler, muss sich Kasparow nach einem Angriff wieder zurückziehen. Jaeschke ist auch so ein Taktiker, der einfache Bauern gerne höheren Zielen opfert.

Ich hole mein letztes Pferd aus dem Stall, versuche Kasparow noch ein wenig zu ärgern, doch der bringt seelenruhig seine Türme in Position. Es braut sich etwas zusammen. Nach einem Turmgemetzel flieht mein König ins offene Feld. Die Angreifer lassen nicht mehr von ihm ab. Das Ende naht. Ich bin fair und gebe nach 20 Zügen auf. Kasparow lächelt für eine Millisekunde, gibt mir kurz die Hand. Wenn ich 20 Züge durchhalten würde, sei das schon respektabel, hatte Gunnar gesagt.

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