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Berlin: Einer von uns

Er ist ein Elite-Polizist beim Mobilen Einsatzkommando – und begeht plötzlich einen brutalen Mord. Warum hat keiner seiner Kollegen etwas geahnt?

Die Bregenzer war immer schon eine gutbürgerliche, baumbestandene Straße in Wilmersdorf. Zwanzig, dreißig Häuser vor allem zum Wohnen. Die meisten klassische Berliner Vierstöcker mit Bel Etage und Balkon. Dazwischen, in den Bombenlücken des Zweiten Weltkriegs, 70er-Jahre-Kästen, bei denen fünf Stockwerke in die gleiche Traufhöhe passen. Am nördlichen Ende, zum Olivaer Platz hin, ein paar Geschäfte für die modebewusste Kiezveteranin – Boutique, Friseur, Kosmetiksalon.

Am südlichen Ende, Ecke Düsseldorfer Straße, der „Engel Gabriel“, das verlängerte Wohnzimmer der Kiezbohème – Karikaturisten, Radioleute, Schreiber. Ein kleiner Billardraum, ein größerer mit Tischen und Tresen. Das Bier frisch gezapft, die Weine anständig, die Wirtin, wie sie sein soll. Niemand kriegt an diesem milden Pfingstmontagabend 1990 mit, dass in einem Haus um kurz nach elf ein Schuss fällt. Die Gäste legen die Queue erst aus der Hand oder gehen mit dem Glas in der Hand auf die Straße, als die ersten Sirenen zu hören sind.

Es ist ein Mord passiert in der stillen, braven Bregenzer Straße. Keiner von der Sorte, die der moderne Großstadtmensch mit einem coolen: „Gewalt kommt in besten Familien vor!“ zur Kenntnis nimmt. Sondern ein verstörender, unheimlicher Mord. Der Täter ist zehn Minuten später geschnappt, um die Ecke in der Xantener Straße. Eine Zivilstreife war zufällig in der Gegend unterwegs. Jetzt wird die Tat verstörend für die Polizei, denn der junge Mann ist einer der ihren. Ein Kriminaloberkommissar vom Mobilen Einsatzkommando (MEK). Nennen wir ihn Lars Vermander. Er ist 28 Jahre alt, trägt eine Perücke und hat die Axt noch in der Hand, mit der er kurz vorher auf Hals und Kopf einer Frau eingeschlagen hat.

„Die Iris“, erzählt die Nachbarin ein paar neugierigen Gästen des „Engel Gabriel“ später, „die muss bald 50 sein, aber die hat immer so’ ne langen Fingernägel. Die ist Puffmutter irgendwo in der Kantstraße.“ Das haben sie auch der Kommissarin in der knallroten Lederjacke schon zu Protokoll gegeben. Jaja, die hat wohl auch zu Hause noch ein paar Freier empfangen, aber diskret. Warum nicht? Ist doch kein Verbrechen. Aber plötzlich kommt da einer und schießt die einfach tot! Kein Streit. Kein Geschrei. Nichts. Nur plötzlich dieser Knall, und dann kracht eine Patrone durch die Tür von der Iris und prallt an der Tür gegenüber ab. Dabei sind die Wohnungstüren nicht aus Pappe, auch wenn das hier ein Neubau ist. Die sind zentimeterdick!

Besonders verstörend ist die Tat für die Kolleginnen und Kollegen vom MEK. Günther Matthes, Leiter des dritten Teams (MEG 3) und Vermanders unmittelbarer Vorgesetzter, traut seinen Ohren nicht, als er bei Dienstbeginn telefonisch informiert wird. „Ich hab erst mal gedacht: Ist das’n Scherz? Will dich einer verulken?“ Aber als er hört, was sein KOK den Kollegen von der fünften Mordkommission noch in der Nacht alles gestanden hat, wird ihm schnell klar, wie ernst der Anruf ist. Lars Vermander war offenbar gut vorbereitet am Tatort erschienen. Er hatte eine Perücke auf und einen Tarnmantel an, er hatte Plastiktüten, Plastikhandschuhe, eine Axt und seine Dienstpistole dabei, als Iris ihn arglos in die Wohnung ließ. Kurz danach schoß er ihr von hinten in den Kopf. Die Patrone war präpariert wie ein Dumdum-Geschoß. Sie sollte erstens tödlich sein und zweitens im Kopf steckenbleiben. Tödlich war sie tatsächlich sofort. Aber sie ging durch Kopf und Tür und alarmierte die Nachbarn. Irritiert vergaß er, die Handschuhe anzuziehen, packte die Axt mit bloßen Händen und versuchte, ihr den Kopf abzuschlagen. Aber auch das ging nicht nach Plan. Im Treppenhaus waren inzwischen Geräusche. Nachbarn rissen die Türen auf, riefen die Polizei. Sie sahen ihn auf die Straße rennen, die Axt in der Hand.

In der ganzen Dienststelle schlägt die Nachricht über die Tat des Kollegen ein wie eine Splitterbombe. Auch Sabine Hartwig, damals Leiterin der vierten Gruppe, ist schockiert. „Mir ist der Schreck in alle Glieder gefahren.“ Sofort fällt ihr ein, wie manisch sie immer kontrolliert, dass niemand seine Waffe rumliegen läßt. Der zweite Gedanke, an den sie sich erinnert, ist noch unbehaglicher: „Das ist alles so nah, der ist einer von uns – gab’s denn da keine Anhaltspunkte?“

Es gab einige. Lauter einzelne winzige Anzeichen dafür, dass irgendetwas bei Lars nicht mehr rund läuft. „Er wurde fahrig“, beschreibt Matthes, „kam immer öfter zu spät und wirkte so unausgeschlafen und vernachlässigt, dass man dachte, er hat die ganze Nacht durchgezecht.“ Dabei ist er gar kein „Trinkling“. Lars Vermander ist am Anfang ein intelligenter, lebensfroher junger Mann, beliebt bei den Kollegen – „und Kolleginnen, muss man sagen, ein Frauentyp“ – und einer, der halbe Kabarettprogramme auswendig rezitieren kann und alle zum Lachen bringt. Nach dem Abitur lernt er drei Jahre lang die Grundlagen des kriminalistischen Handwerks auf der Fachhochschule, geht als KKzA, Kriminalkommissar zur Anstellung, durch den üblichen einjährigen Durchlauf auf unterschiedlichen Kripo-Dienststellen und meldete sich dann zum MEK.

Solche Spezialeinheiten haben nicht nur einen speziellen esprit de corps, sie nehmen auch nicht jede und jeden. Bewerber müssen besonders stressresistent und körperlich fit sein und werden mehrfach getestet. „Alle MEG-Leiter nehmen an diesen Auswahlverfahren teil“, erklärt Matthes, „denn jede Gruppe hat ihre Eigenheiten. Wir gucken uns die Leute natürlich auch danach an: Könnte der oder die in meine MEG passen?“ Eine MEG besteht aus 14, 15 Leuten. Vier MEGs hatte das gesamte MEK damals, heute sind es acht.

Die Beamten observieren im Auftrag der Ermittler vom LKA Zielpersonen und deren Bewegungen, Aktivitäten, Kontakte. Sie versuchen, alles an Informationen zusammenzutragen, was Staatsanwaltschaft und Polizei brauchen, um Drogendealer, Menschenhändler, Serienräuber, Mörder vor Gericht zu bringen. Sie sind Tage, Nächte, oft Wochen unterwegs. Sie starren auf Türen, die sich acht Stunden lang nicht öffnen, und sind im entscheidenden Moment hellwach. „Sie müssen sehr vielseitig sein, ihren ,Typus’ wechseln und schlagfertig reagieren können, wenn sie mal angesprochen werden.“ Beim Observieren in der U-Bahn oder einer Hotel-Lobby etwa. „Ohne Teamarbeit geht da gar nichts“, sagt Sabine Hartwig. Sie gehörte zwanzig Jahre lang zur MEK-Führung, bevor sie als Dozentin für Kriminalistik an die Landespolizeischule wechselte. „Das erfordert gut geöltes Zusammenspiel, und natürlich sind das auch verschiedenste Charaktere.“

Lars Vermander hat ein dickes Beziehungsproblem. Er und seine Freundin kommen nicht voneinander los und sind gleichzeitig Gift füreinander. Er will sie „rausholen“, finanziert ihr Läden, die pleite gehen und ihn immer tiefer reinreißen. Die Kollegen versuchen ihrerseits, ihn rauszuholen. Vergebens. Er dreht innerlich ab. Wird plötzlich aggressiv. Matthes stellt ihn zur Rede. Eine Zeit lang geht es wieder normal. Aber als er einmal beim gemeinsamen Stressabbau-Hockey von Matthes gefoult wird, zieht Vermander ihm – seinem Chef – von hinten den Schläger über den Kopf. „Ich dreh mich um und seh ihm in die Augen, und die sind wie vergittert. Er war unerreichbar in dem Moment, außer Kontrolle“, erinnert sich Matthes. Eigentlich, findet er, geht ihn das Privatleben seiner Leute nichts an. Aber Selbstkontrolle ist lebenswichtig, und wenn ein Teamarbeiter aus dem Ruder läuft, gibt es keine Diskretionszonen mehr für einen Chef.

Matthes erfährt, dass Vermanders Freundin Prostituierte ist. „Aber eine Beziehung ins Rotlichtmilieu und Arbeit im MEK, das geht nicht zusammen.“ Es macht ihn selbst erpressbar und gefährdet die Sicherheit des Teams oder mindestens der Ermittlungen. Matthes gibt ihm drei Monate Zeit, sein Leben aufzuräumen. Entweder er schafft endlich, „die Reißleine zu ziehen“ und sich zu trennen, oder er muß raus aus dem MEK.

Anfang Juni 1990 ist die Frist fast um, aber die Reißleine noch immer nicht gezogen. Im Gegenteil, Vermander ist unaufgeräumter denn je. Am 4. Juni geschieht der Mord. Ein planvoller, fast „aufgeräumt“ wirkender Mord, der im verstörenden Gegensatz zu dem steht, was er selbst der Mordkommission erzählt. Er habe „Odin“ ein „Opfer bringen“ müssen, sagt er aus. Um sich seiner Gunst zu versichern. Odin könne ihm helfen, diese zerstörerische Beziehung zu heilen, glaubt er. Er habe das mit kleineren Opfern getestet. Und diesmal habe es ein großes Opfer sein müssen, das größte: Er habe einen abgeschlagenen Kopf begraben sollen. Deshalb die Axt, deshalb die Plastiktüten.

Und deshalb ziehen die Mordkommissare sofort einen Psychiater zur Vernehmung hinzu und schicken den Mann, der sehr bereitwillig und „ausgesprochen logisch, rational und reflektiert“ sein Leben vor ihnen ausbreitet, danach nicht in die U-Haft in Moabit, sondern in die geschlossene Abteilung der Karl-Bonhoeffer-Nervenklinik. „Das mit Odin haben wir auch erfahren“, sagt Sabine Hartwig, „aber ich hab’s nicht geglaubt.“ Obwohl sie mitbekommen hatte, dass Vermander oft „so Romane mit alten germanischen Sagen las“. Auch seine sehr eigentümliche Handschrift war ihr mal aufgefallen, „Großbuchstaben, die an Runen erinnerten. Trotzdem war mein allererster Gedanke: Das hat er sich ausgedacht, um der Strafe zu entgehen!“

Günther Matthes ist von der Odin-Geschichte auch nicht restlos überzeugt. Die Runenschrift ist ihm nie aufgefallen, und zu denken gibt ihm, dass selbst einem Psychologen, den Lars Vermander kurz vor der Tat zweimal aufgesucht hat, nichts aufgefallen ist. „Dass da seit einiger Zeit etwas in ihm schwelte, das war klar“, sagt der Matthes, der heute stellvertretender MEK-Leiter ist. „Aber ich bin eben zu sehr Realist und betrachte die Dinge mit den Augen des kriminalpolizeilichen Sachbearbeiters.“ Und die sehen Mosaiksteinchen, die sich auch zu einem anderen Motivbild zusammenfügen lassen.

Vermander ist gelernter Kriminalbeamter. So jemand weiß, wie wichtig Spuren sind. Eine 9-mm-Parabellum-Patrone aus einer Polizeipistole in einem Kopf ist eine dicke Spur. Um sie zu beseitigen, läßt man am besten den ganzen Kopf verschwinden. Und man zieht dazu Handschuhe an und verkleidet sich, damit eventuelle Zeugen falsche Beschreibungen abgeben müssen. Könnte es auch so gewesen sein? Könnte das „Opfer“ womöglich gar nicht „Odin“ gegolten haben, sondern der Freundin, die sich weder halten noch loswerden ließ?

Matthes weiß es nicht. Er hat keinen Kontakt mehr zu seinem ehemaligen KOK. Aber er hat ihn noch ein paarmal in „Bonnies Ranch“ besuchen müssen, um dienstliche Dinge wie die Entlassungspapiere zu regeln. „Ich fand ihn fast gelöst, und ich hatte das Gefühl, er sieht vor allem zu, dass er auf keinen Fall ins Gefängnis kommt.“ Auch das ist höchst rational – als „Bulle und Hurenmörder“ wäre er da kaum willkommen geheißen worden.

Die Bregenzer Straße ist längst wieder still und brav. Der „Engel Gabriel“ hat seine Flügel eingeklappt, als die Wirtin ins Rheinland zurückging. Seitdem sind manche Gäste gestorben. An Krankheiten. Lars Vermander ist der Knast erspart geblieben. Er wurde als schizophren beurteilt und hat seine achtjährige Strafe in „Bonnies Ranch“ abgesessen.

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