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Einzige Berliner Passagierin: Charlottenburgerin überlebte den Untergang der Titanic

Zehn Jahre lang erforschte Gerhard Schmidt-Grillmeier das Leben der einzigen Berliner Passagierin der Titanic. Antoinette Flegenheim aus der Windscheidstraße überlebte im ersten Rettungsboot. Der Reederei stellte sie später eine saftige Rechnung.

Sie war ja nicht zum ersten Mal von zu Hause weg. Antoinette Flegenheim wusste, was es hieß, allein das Unverzichtbare einer vermögenden Witwe für eine Transatlantikreise zusammenzustellen: Die Diamanten-Lorgnette musste mit, die goldene Tasche mit den Saphiren, die Smaragd-Brosche in Form einer Eidechse. Alfred, der Mann, der sie vor über 20 Jahren am 1. November 1890 in Manhattan geheiratet und ihr sein Vermögen hinterlassen hatte, war jetzt viereinhalb Jahre tot. Nach den Jahren, die sie mit ihm im solventeren Teil von New York verbracht hatte, nach Jahren des Pendelns zwischen Amerika und Europa auf Schiffen, die „Suevia“ hießen, „Kaiser Wilhelm II“, „La Savoie“ und „Kronprinz Wilhelm“, war sie wieder nach Charlottenburg gezogen: Windscheidstraße 41, zweiter Stock.

Im April 1912 packt sie auf ein Neues ihre Koffer für Amerika. Hinein kommt der Fuchsschwanz, drei seidene Petticoats, vier aufwendige Nachthemden und drei einfache. Das Erste-Klasse-Ticket mit der Nummer 17598 hatte sie 31 Pfund, 13 Schilling, 8 Pence gekostet. Und dieses Mal würde sie die „Titanic“ nehmen.

Knapp 100 Jahre später sitzt Gerhard Schmidt-Grillmeier in seiner großzügigen Wohnung und blickt auf den Berliner Kreuzberg, der ihm in all den Jahren kein bisschen entgegengekommen ist. Er ist Mitglied des deutschen Titanic-Vereins, begeisterter Kreuzfahrer, im fortgeschrittenen Alter, Ahnenforscher, ausgebildeter Sozialarbeiter und der Mann, der die einzige Berliner Passagierin der Titanic am genauesten kennt. Die letzten zehn Jahre hat er damit verbracht, ihr Leben zu erforschen. Was die Recherche erschwerte, waren ihr nomadischer Lebensstil, ihre Hochzeiten, gefolgt von Namensänderungen, der Ausbruch zweier Weltkriege und ihre eitle Marotte, sich gelegentlich ein paar Jahre jünger zu machen, als sie war.

Antoinette Flegenheim, an Bord gegangen in Cherbourg, am 14. April 1912 eingeschlafen gegen 22 Uhr in Kabine 8 auf Deck D, wacht keine zwei Stunden später wieder auf durch ein schlagendes und ein schleifendes Geräusch. Lauschen. Pantoffel. Nach dem Klingeln kommt kein Steward. Sie sucht ihre Bekannte Blanche Greenfield in deren Kabine auf, hört von einer Kollision, soll sich anziehen und an Deck kommen. Schwimmweste. Offizier Murdoch fängt ihren Hut auf. Fast leeres Deck. Rettungsboot Nummer sieben ist das erste, das die Titanic verlässt.

Erst unten auf dem Wasser sehen sie, wie das Schiff nach vorne absackt. Erst von ferne hören sie die Schreie der Opfer. Erst mehrere Stunden später sammelt die „Carpathia“ sie auf.

Mit einem Schlag, der der Aufprall eines Eisbergs war, wird eine zufällig versammelte Anzahl unterschiedlichster Menschen zu einem abgeschlossenen Sammelgebiet: Ihre Lebenswege, Motive, Charaktere, Äußerungen, Besitzverhältnisse, ihre Rettungsbootnummern und ihre Todesart werden Ziel der akribischen Recherche besessener Laien. Schmidt-Grillmeier kommt es vor, als wäre aus der damaligen Gesellschaft eine Probe gezogen worden – die Reichsten waren versammelt und die Armen auch. Dieser Ausschnitt der Gesellschaft versinkt im Meer wie kurze Zeit später ganz Europa im Ersten Weltkrieg.

Sie gibt ihrem unsteten Leben durch Heirat Halt - gut acht Wochen nach dem Untergang

Die einzige Person aus Berlin, glücklich gerettet, gibt ihrem unsteten Leben durch Heirat Halt: Gut acht Wochen nach dem Untergang, am 20. Juni 1912, heiratet sie den Engländer Paul Elliot White- Hurst in Buffalo, New York. Der ist erst 35 Jahre alt. Heute weiß Schmidt-Grillmeier, dass Antoinette Flegenheim sich auf dem Dokument sieben Jahre jünger gemacht hat, als sie ist: Sie ist bei der Hochzeit nicht 42, sondern 49 Jahre alt.

Wertvoll wird noch die Ahnung eines Geburtsortes auf diesem Papier: Etwas wie „Himmelfort“ oder „Himmelpfort“ entziffern Grafologen. Es gibt ein Himmelpfort nördlich von Berlin, bei Fürstenberg an der Havel. Irgendwann erhält Schmidt-Grillmeier Antwort von einem Pfarrer in Rente, der auch Heimatforscher ist. Ja, sie wurde dort getauft. Ja, sie hatte noch Geschwister.

Später kann er über Umwege mithilfe einer Auskunft aus dem Münchener Melderegister den Verdacht erhärten, dass Berta Antonia Maria Wendt am 11. Mai 1863 um acht Uhr morgens in Himmelpfort geboren wurde. Und er wäre da nie drauf gekommen, wenn sich nicht 2010 die Großnichte ihres zweiten Ehemanns aus England bei ihm gemeldet hätte!

Hatte Schmidt-Grillmeier in den ersten Jahren seiner Recherche „bündelweise Briefe geschrieben“, die zum großen Teil unbeantwortet geblieben waren, schreibt er nun Mails und postet in Foren, „und irgendwann antwortet jemand.“ Er erträgt, dass die Puzzlestücke sich nur langsam finden. Der geringste Teil eines Lebens wird ja amtlich dokumentiert. Er besucht Friedhöfe, kontaktiert Museumsleiter in New York, Ahnenforscher in England, er reist und schreibt jedem Verdacht hinterher. Meldebögen, Zensusdaten, Gemeinderegister zieht er zu Rate. Er tut es mit einer Sorgfalt, die viele Titanic-Fans auszeichnet, die irgendwann als Jungen in Kontakt gekommen sind mit einem Buch oder einem Bild des Schiffes. Und heute sitzen da gestandene Männer und können von der Titanic nicht lassen.

Schmidt-Grillmeier stößt im Mikrofichearchiv der Landesbibliothek Berlin auf ein Foto der Reisenden, das am 19. April 1912 im „Berliner Lokalanzeiger“ erschienen war. Er vermutet, dass sie ihre Fahrkarte in der Vertretung der White Star Line Unter den Linden 5–6 gekauft hat. Er findet heraus, dass Flegenheimer – die ja durch Heirat Britin geworden ist – während des Ersten Weltkriegs in Den Haag lebt. Dass sie sich im März 1923 in München anmeldete. Der letzte Eintrag lautet dort 1939 auf die Kaulbachstraße, da war sie schon 76 Jahre alt. Schmidt- Grillmeier verliert die Fährte. Sie hat sich nicht abgemeldet, in München wurde sie nicht beerdigt, in England hat er auch nichts gefunden. Aber das muss noch nichts heißen. Schmidt-Grillmeier ist sich sicher, dass er in den nächsten Jahren auch noch die Umstände ihres Todes herausfinden wird.

Erst Heiligabend im Jahr des Untergangs fasst Antoinette Flegenheim, die inzwischen mit Nachnamen White-Hurst heißt, auf drei Seiten ihre Verluste zu einer Schadenersatzforderung an die White Star Line zusammen: Kleidung im Wert von 3 683 Dollar, Schmuck und Bargeld im Wert von sagenhaften 14 707 Dollar. Hier tauchen sie wieder auf: Die Diamanten-Lorgnette, die goldene Tasche mit Saphiren, die Smaragd-Brosche in Form einer Eidechse. Der Fuchsschwanz, drei seidene Petticoats, zwei Korsetts. Vier aufwendige Nachthemden und drei einfache, ein Dutzend Paar Handschuhe, eine Lupe, eine Kodak-Kamera.

Sie beschreibt in dem Brief, wie sie zwei Mal versucht, ihre Wertsachen abzuholen, aber mit dem Service steht es während des Untergangs nicht zum Besten: Der Zahlmeister ist nicht auf seinem Posten. „Folglich“, schreibt die Überlebende, „ist die Firma doppelt verantwortlich für den Verlust.“

Schmidt-Grillmeier kann nicht behaupten, dass ihm die Dame Antonia/Tony/Toni/Antoinette White-Hurst, ehemals Flegenheimer, genannt Flegenheim, ehemals Wendt, „stinkreich durch ihren Witwenstand“, über die Jahre ans Herz gewachsen sei. Er kann auch nicht erklären, wie es eine von vier Töchtern eines Försters aus Himmelpfort gelang, in Europa und Amerika als Dame der Gesellschaft bekannt zu werden. Charme ist denkbar, lässt sich aber nicht mehr beweisen.

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