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Auf die Plätze, Fertig, Sprung!

© TSP

Elf Mutproben: Berlin - eine Stadt voller Herausforderungen

Die Großstadt lässt existenzielle Krisen kaum noch zu. Im Kampf müssen wir uns kaum bewähren. Umso wichtiger, sich mit kleinen Herausforderungen fit zu halten. Unser Autor hat sein Training schon absolviert.

INS SCHWIMMBECKEN SPRINGEN

Die Kunst, mich über Wasser zu halten, beherrsche ich, mit Schwimmen aber hat das nichts zu tun. Zum Freischwimmer hat es nie gereicht, ich erinnere nur noch mächtige, sonnenlederne, brusthaarbeflockte Bademeister, die mich mit langen Stangen aus dem Wasser zogen. Heute werde ich mein Seepferdchen ablegen. Im Stadtbad Wilmersdorf hat man offenbar nicht auf mich gewartet.

Es dauert ein Weilchen, ehe der entspannt im Liegestuhl residierende Bademeister versteht, dass ich es bin, der das Zeugnis für den Frühschwimmer ablegen will. „Also versteh ich Sie richtig? Sie, Sie selbst wollen das Seepferdchen machen!“ Ich nicke enthusiastisch. „Was soll ich tun?“ – „Schwimmen Se mal eine Bahn, ich schau zu. Und zuerst springen Se mal vom Beckenrand, ich nehme an, Sie springen fußwärts?“ – „Ja“, sage ich, „fußwärts!“ Ich bebe vor Tatendrang. Lege die Brille ab, lasse mich ins Becken plumpsen. Gehe sofort unter wie ein Kieselstein. Auftrieb, Auftauchen. Als wäre ich im Wasser geboren.

Wie ein Lurch paddele ich meine zwei Bahnen in kreatürlicher Einfalt. Der Bademeister klatscht allen Ernstes Beifall. Das ist mir dann doch unangenehm. Jetzt muss ich noch einen gelben Ring aus schultertiefem Wasser bergen. Elegant wie ein Seehund tauche ich ab, ergreife den Ring und schnelle nach oben. Unwillkürlich balle ich die Faust wie Boris Becker. Jetzt spendet sogar die Bademeisterin Beifall.

Eine Schwimmerin mit Badekappe und Schwimmbrille fragt: „Ist das jetzt Seepferdchen für Erwachsene?“ Sie lässt durchblicken, dass sie den Rettungsschwimmer in Silber hat. Der Bademeister sagt: „Ganz toll sind Sie geschwommen“ und übermittelt meinen Namen dem Mann an der Kasse. Dort wartet dann schon mein Frühschwimmerzeugnis. „Torsten Körner ist berechtigt, das Frühschwimmerabzeichen – Seepferdchen – zu tragen.“ Die Urkunde kostet fünf Euro. Der Kassenmann fragt: „Wollnse auch das Abzeichen? Kostet noch mal 1 Euro 50!“ Mit von Stolz geblähter Brust steige ich aufs Rad und fühle mich um Jahrzehnte verjüngt.

Seite 2: So überwindet man die Angst vor der Bestie

"Wuff!"...der tut auch nix!
"Wuff!"...der tut auch nix!

© ddp

Bart ab, Kehle durch?
Bart ab, Kehle durch?

© ddp

ÜBER KAMPFHUNDFELL STREICHELN

Heute will ich mal einen Kampfhund streicheln. Ich fahre durch Kreuzberg mit Kurs auf Neukölln. An der Urbanstraße sitzen drei Männer in einem Straßencafé. Es ist mild. Zu ihren Füßen liegt ein gedrungener Pitbullterrier. Ich halte in respektvoller Entfernung und frage mich, ob ich die Männer anspreche. Da sie aber in ihren dunkelfiesen Lederjacken und Militaryhosen gefährlicher als der Hund aussehen, der wie betäubt auf dem Bürgersteig liegt, fahre ich weiter.

Ich schiebe mein Rad über den Hermannplatz und werde schwer enttäuscht. Kein einziger Kampfhund. Immer wenn man mal wirklich einen braucht, ist keiner da. Endlich werde ich in Kreuzberg fündig. Auf der Wiener Straße tritt ein Frau aus dem Haus und führt einen Staffordshire-Bullterrier an der Leine. Ich folge ihr langsam. Auf dem Geschirr des Hundes steht „Pretty girl“ und „Baby“. Die Frau, Mitte dreißig, ist ganz in Schwarz gekleidet, changiert modisch zwischen Goth-Mutter und Emo-Braut, auf dem Kopf türmt sich das Haar dramatisch. Endlich bleiben wir an einer Fußgängerampel stehen.

„Entschuldigen Sie, darf ich mal Ihren Hund streicheln?“ Ihr Gesicht öffnet sich so langsam wie eine schwere Eisentür. „Wir möchten das nicht so gerne! Das wollen so viele!“ Ich bin erstaunt. „Wirklich?“ Sie nickt kaum merklich. „Wir würden doch auch nicht von Wildfremden gestreichelt werden wollen, oder?“ Ich lächele und sage mit einem Tonfall aufrichtigen Bedauerns: „Ich habe noch nie so einen Hund gestreichelt!“ Die Eisentür schließt in Zeitlupe: „Wenn Sie das Gefühl haben, Sie müssen da was ausprobieren, dann haben Sie einen ganz falschen Eindruck von diesen Hunden!“

Ich bedanke mich für die Rassen- und Charakterkunde und fahre streichellos weiter. Am Kleistpark, ich habe kaum noch Hoffnung auf eine Kampfhundstreichelchance, sehe ich einen jungen Türken, der ein schwarzes Kraftpaket an einer Kette führt. Kein Maulkorb. Ich halte. „Entschuldigen Sie bitte, könnte ich mal Ihren Hund ...?“ Er unterbricht mich: „Willst du streicheln, kannst du streicheln!“ Der Hund schaut mich treuherzig an. Er müffelt. Aber nur ein bisschen. Ich herze ihn an den Flanken. Er lässt es sich gefallen, gähnt. Zähne blinken, Zunge schlabbert meine Hand. Danke!

Seite 3: So streckt man einem Muskelmann seinen Kehlkopf entgegen.

Hier geht's in den Keller.
Hier geht's in den Keller.

© Mike Wolff

So schön sieht Berlin von unten aus.
So schön sieht Berlin von unten aus.

© Doris Spieckermann-Klaas

UNTERM RASIERMESSER VERTRAUEN

Der Laden in der Reichenberger Straße heißt „Hair & Cut“. Im Schaufenster stehen zwei wohlfrisierte Männerköpfe. Im Inneren herrscht Gefängniszellenminimalismus. Drei durchgesessene Kunstledersofas, zwei Frisierstühle, zwei Waschbecken, Heizung tot. Ich muss warten. Ein junger Mann, offenbar ein Boxer auf dem Weg zum Training, wird frisiert und rasiert. Es dauert lang.

Der Meister, der wie Vin Diesel in „The Fast and the Furious“ aussieht, lässt die Schere mit magischer Schnelligkeit tanzen. Die Frisur des Boxers ist von beängstigender Akkuratesse. Jedes Haar ein Ausrufezeichen! Jedes Haar ein Stachel-Ich! Ab und zu kommt ein Assistent herein, fegt lustlos die Haare weg und verschwindet wieder. Die Musik ist sehr international. Zuerst Gangsta-Rap, dann klagender Orient, schließlich Anne-Clark-Sprechgesang mit hartem Technoteppich. „Nur rasieren?“, fragt Vin Diesel.

Ich nehme Platz. Das Rasiermesser wird gewetzt, Schaum geschlagen. Der Schaum ist warm, fast heiß. Der Meister seift mein Kinn und meine Wangen mit solcher Kraft ein, als würde er eine grob verunreinigte Straße fegen. Dann setzt er das Messer an, ich schließe die Augen. Das Letzte, was ich sehe, sind zwei Kinderfotografien, die am Spiegel stecken. Das beruhigt. Vin Diesel hat Kinder.

Mir gehen schlechte Agentenfilmbilder durch den Kopf. Jemand verkleidet sich als Barbier, setzt die Klinge an die Kehle und dann...Daumen und Zeigefinger zupfen meine Haut hoch, das Messer läuft Schlittschuh auf meinem Adamsapfel. Mein Kopf wird gebogen, jetzt liege ich geborgen in Vin Diesels Armen. Wenn der Mann nun ein entflohener Gangster ist? Er drückt meinen Kopf ins Waschbecken, wäscht mir wie einem Kind das Gesicht und rubbelt mich ab. Das Rasierwasser brennt mit der Kraft eines Flammenwerfers. Mein Kinn hält sich jetzt für das von George Clooney!

Seite 4: So fährt man in den Abgrund.

Eine stille Angelegenheit: U-Bahn fahr'n in Berlin.
Eine stille Angelegenheit: U-Bahn fahr'n in Berlin.

© David Heerde

Was sich wohl hinter dieser Scheibe verbirgt?
Was sich wohl hinter dieser Scheibe verbirgt?

© Doris Spieckermann-Klaas

IN DEN PATERNOSTER EINSTEIGEN

Wer vor dem Paternoster im Rathaus Schöneberg innehält, beginnt gleich zu beten. Die Kabinen steigen in unerschütterlichem Gleichmut rumpelnd und ächzend auf und ab. „Kindern, Gebrechlichen, Behinderten, Leitern und Kinderwagen“ ist die Benutzung verboten. Die Flure sind düster, dunkel, die Gegenwart ist zwar vorhanden, doch hier regiert düstere Weltgeschichte. Hinter jeder Ecke könnte ein Spion lauern oder Berlins früherer Bürgermeister Willy Brandt auftauchen.

Ich springe auf, die Kabine wackelt. Der Kasten klettert zum ersten, zum zweiten, zum dritten OG. Graffiti an den Wänden. Die Durchfahrt durch den Boden sei ungefährlich, verspricht ein Schild. Ein elektrisches Sirren wird immer stärker, lauter, plötzlich endet der Aufstieg, die Kabine wird auf Rollen verschoben, das Sirren sticht noch einmal zu und ich fühle mich plötzlich wie ein unzustellbares Paket, das für immer durch ein Zustellungslabyrinth irren muss.

Nun geht es abwärts in Richtung Keller. „Bitte aussteigen!“, verlangt ein Schild, ich ignoriere es. Es wird stockfinster, kein Licht, der Keller ist ein Loch im Schlund der Stadtgeschichte. Hier könnte man morden, hier spuken die verlorenen Seelen des Amtes, die Aktenopfer der menschenblinden Behörde. Die Hölle ist ein Ort, wo das gefühlsabweisende Linoleum jeden Tag gewachst und gewienert wird.

Seite 5: So fühlt man sich wie in der Waschmaschine.

Hallo, Echo!
Hallo, Echo!

© Doris Spieckermann-Klaas

Wer will da schon rein? Bundeskanzleramt in Mitte.
Wer will da schon rein? Bundeskanzleramt in Mitte.

© Doris Spieckermann-Klaas

ÜBER DIE WIESE ABROLLEN

Als ich vor zwanzig Jahren das erste und letzte Mal in der Hasenheide joggte, suchte die Polizei gerade nach Projektilen, weshalb ich umkehren musste. Schusswechsel. Der Empfang heute ist durchaus freundlich. Die Sonne taucht den Park in Herbstgold. Später Mückentanz. Zwei Skateboard-Fahrer sitzen auf ihren Brettern wie auf Schlitten und schießen den Berg hinunter.

Viele ältere dünne Männer joggen, zwei Dealer drücken sich herum, ich höre den Satz „Ich mach dich tot, Alter!“, sehe aber nicht, wer spricht und wem die Drohung gilt. Da ist ein „Streichelgehege“ (was für ein toll widerstreitendes Wortgebilde!), Kinder, Mütter, ein Esel schreit zum Herzerweichen, dort ist ein viel bevölkerter Hundeauslauf. Ich mache halt am Fuß einer riesigen, vielarmigen Eiche. Hier geht es steil den Hang hinunter, hier will ich mich wie ein Kind auf dem Rasen hinunterrollen lassen. Ich prüfe den Boden.

Tausende von Eicheln bedecken ihn, morsche Astbruchstücke, trockenes Laub. Wird hart werden! Auf dem Weg passieren fast ununterbrochen Radfahrer, Spaziergänger, Jogger. Auf Zeugen lege ich keinen Wert. „Ach, scheiß drauf!“, rufe ich mir schließlich bodenständig zu, lasse mich ins Gras sinken, lege mich lang hin und rolle mit Schwung ins Tal. So muss es sich in Waschmaschinen leben! Die Rotation ist enorm, man sieht nichts mehr, nur noch Schwindel, Bewegung, Action. Die Landung ist hart, ich versuche, sofort aufzuspringen, doch alles dreht sich, ich taumle wie ein getroffener Boxer, ein Hund schießt auf mich zu, wird zurückgerufen „Kuno, hierher!“ und dreht ab.

Langsam finde ich in die Hasenheide zurück. Die Dämmerung hat’s eilig. Auf den Wiesen sammelt sich nebliger Dunst. Die Silbersichel tritt recht prahlerisch den Dienst an. Die Vögel sind herbstmatt, entferntes Hundegebell, der schreiende Esel, die Dealer quengeln im Unterholz.

Seite 6: So erobert man sich die Bühne.

Einmal schlafen wie im Katalog.
Einmal schlafen wie im Katalog.

© Mike Wolff

Mein Freund der Baum, Nr. 38.
Mein Freund der Baum, Nr. 38.

© Doris Spieckermann-Klaas

IN DER U-BAHN SCHWEIGEN

Ich steige am Kottbusser Tor zu. Linie 1 Richtung Wittenbergplatz. Es herrscht Feierabenddichte. Ich muss mich überwinden. Kein anderes Mutpröbchen ist mir bislang so schwer gefallen wie dieses. Was für eine Kraft müssen diejenigen besitzen, die es jeden Tag mit den müden, verschlossenen Gesichtern in der U-Bahn aufnehmen? Die jeden Tag um Aufmerksamkeit bitten und betteln, die etwas verkaufen wollen und ihr zu Tode gespieltes Bedürftigkeitslied singen? Als ich gerade ansetzen, als ich gerade mein Publikum begeistern und unterhalten will, steigen zwei Sicherheitsleute zu und beginnen die Tickets zu kontrollieren.

Ich verlasse den Zug, wechsele den Bahnsteig kaufe mir für den Rückweg brav ein Ticket und fahre gen Schlesisches Tor. Jetzt! Mein Auftritt! Ich postiere mich in der Mitte des Ganges. Ich räuspere mich noch einmal und rufe: „Bitte entschuldigen Sie die Störung!“ Der ein oder andere Kopf hebt sich. „Ich will Ihnen nichts verkaufen. Ich werde für Sie fortan schweigen. Versprochen!“ Zwei oder drei andere Köpfe werden gehoben. Ich werde taxiert, aber weil ich schweige, erlahmt das Interesse an meiner unerhörten Darbietung schnell.

Die meisten haben mich nicht gehört, viele haben Knöpfe im Ohr, telefonieren oder lesen Bücher mit Titeln wie „Killerfinsternis“ oder „Im Tal der blutigen Tränen“. Beim Aussteigen sagt einer: „Danke! Aber Geld bekommste für die Nummer nicht.

Seite 7: So verspielt man Alles.

INS CASINO EINTRETEN

Die Scheiben des Automaten-Casinos an der Urbanstraße sind schwarz verklebt, darauf prangt eine silberne Fantasie-Skyline. Vielleicht, denke ich, ist das gar kein Spielsalon, sondern ein Verbrechertreff, eine mafiöse Höhle?

Ich klingle. Eine Kamera beobachtet mich. Dann summt es, die Tür springt auf. Ich trete ein und werde vom Dämmerlicht verschluckt. An den Wänden Spielautomaten, sonst gespenstische Leere. Die Luft ist schneidend von kaltem Rauch. Eine blonde Frau sitzt hinter einem Tresen. „Hallo!“ Ich frage sie, weil ich nicht weiß, was ich sonst sagen soll, ob man den Raum für eine Party mieten kann. „Party? Was Party? Hier?“ Ja, sage ich, mieten, für Party. „Party! Wo?“ Sie versteht nicht. Wir lachen. Warum lachen wir uns jetzt an?

Sie ist eine schöne Frau. Wenn sie lacht, legt sie zwei Finger über ihre leicht schiefen Zähne. Sie ist über vierzig, die Falten um ihre hellblauen Augen erzählen von Kreuzungen und Irrwegen. Wir kichern wie Kinder. „Komme aus Bulgarien! Chef später, kommt später!“ Ich frage, ob es hier einen Flipper gibt. „Flipper?“ - „Ja“, sage ich, „ein Kasten mit einer Kugel, Hebelchen und Ding Dong!“ Sie lacht: „Ding Dong?“ Ihre Augen sind klar. Plötzlich legt der Filmvorführer in meinem Kopf einen Andreas-Dresen-Film in den Projektor. Ich sehe mich an ihrer Seite nach Bulgarien fahren. Ich spende ihrem kranken Vater eine Niere, erlöse ihren Bruder durch mein kindliches Gemüt von einer Depression und saniere eine ganze Plattenbaumeile mit einem Akkubohrer.

Da reißt der Film und mir fällt zum Glück ein, dass ich heute auf dem Standesamt war und das Aufgebot bestellt habe, in Zimmer 188 bei Frau Gottwaldt. Ich heirate in sechs Wochen. Wir lachen noch einmal. Dann winken wir uns zum Abschied zu und ich trete mit dem Gefühl auf die dämmrige Straße, eine Billardkugel zu sein, die ihren Spieler nicht kennt.

Seite 8. So lässt man mal alles raus.

IM HOF PFEIFEN

Segen oder Fluch? In den Straßen unseres Viertels ruft man mich Ilse, weil ich unzweifelhaft das Pfeiftalent des Ufa-Stars Ilse Werner besitze. Leider werde ich oft von dubiosen Melodien heimgesucht, die ich dann zwanghaft wiedergeben muss. Gerade hat mich Deep Purples „Child In Time“ in seinen bombastischen Kathedralenrockklauen.

Ich fahre nach Wilmersdorf. Uhlandstraße. Ich schaue dem Haus nicht ins Gesicht, trete an ein beliebiges Klingelbrett und drücke vier oder fünf Knöpfe. Bevor ich „Werbung“ murmeln kann, summt der Türöffner. Ich bin drin. Der Hof ist überraschend groß. Mülltonnen in Reih und Glied, Fahrräder in Hülle und Fülle, Reste eines hübschen Hinterhofparks. Fühle mich wie in Sanssouci. Ich beginne zaghaft, verhalten, steigere mich aber bald, ganz wie einst Ian Gillan.

Ich laufe zu Hochform auf. Ich zwitschere, tremoliere und quinkeliere wie eine ganze Vogelhochzeit. Besonders gut gelingt mir der falsettierte Heulkreischgesang des Leadsängers. Die Tür zum Seitenflügel öffnet sich, ein Mann schlurft an mir vorbei, eine Tüte mit leeren Weinflaschen im Arm. Er lässt jede wie ein verlorenes Kind in den Container gleiten. Natürlich stört das! Ich pfeife weiter! Im zweiten Stock öffnet sich endlich ein Fenster.

Es ist ein Kind. Es winkt mir zu. Und kräht: „Ich darf heut zu Hause bleiben, sagt Mama!“ Dann schließt es das Fenster.

Seite 9: So spielt man mit der Macht.

AM KANZLERAMT RÜTTELN

Ich schaue mich um. Die zwei Bundespolizisten stehen etwa fünfzig Meter entfernt. Ein japanisches Pärchen fotografiert sich wechselseitig. Ein vollbärtiger Mann hält ein Plakat in die Höhe: „Tiere lieben!“ Ich trete entschieden und kühn an den Zaun. Rüttle daran. Er rührt sich nicht. Steht felsenfest. Ich rüttle und rufe: „Ich will hier nicht rein!“

Die Bundespolizisten nähern sich langsam. Die Japaner auch. Ich rüttle, rufe, rüttle, rufe. Die Polizisten bleiben stehen. Verharren, beobachten mich. „Kann hier denn jeder einfach so am Zaun rütteln?“ frage ich. „Solange Se nicht drüber steigen, könnse rütteln, bis die Hände bluten!“, sagt der mit der grabentiefen Stirnfalte.

Das Pärchen hat mich erreicht: „Would you be so kind...?“ Ich nehme den Fotoapparat. Ihr Lächeln blitzt wie das Schwert eines Samurai.

Seite 10: So erholt man sich in der Mittagspause.

IM MÖBELGESCHÄFT EINSCHLAFEN

Als ich durch die Genthiner Straße fahre, überfällt mich eine mörderische Müdigkeit. Was tun? Da steht eine Currywurstbude, dort zeigen zwei Huren Bein – endlich findet mein schweifender Blick die maßgeschneiderte Lösung: Möbel Hübner! Ich parke das Fahrrad vor Haus 2, nehme den Aufzug und lande in der ersten Etage, der Betten- und Matratzenabteilung.

Es ist so leer, wie ich es mir nur wünschen kann. Dennoch möchte ich das Personal vorab informieren, bevor ich mich zum Mittagsschlaf niederlasse. Ich finde einen freundlichen Kundenberater. „Darf ich hier in allen Betten Probeliegen?“ – „Aber selbstverständlich, der Herr!“ – „Allerdings“, gebe ich mit meinem seriösesten Gesicht zu bedenken, „schlafe ich sofort ein, sobald ich liege. Haben Sie vielleicht einen Wecker?“ – „Wenn Sie wünschen, gebe ich Ihnen einen Wecker mit, aber wir wecken Sie auch. Wann möchten Sie geweckt werden?“ Offensichtlich sind die Angestellten es hier gewohnt, Mittagsschlafsuchende in den Verkaufsbetrieb zu integrieren. „Sie können dort nach hinten gehen, dort können Sie ungestört zur Probe liegen und schlafen“

Ich frage: „Hatten Sie schon mal einen Tiefschläfer?“ Der korrekt gekleidete Verkäufer überlegt nicht lange: „Das nicht, aber wir hatten schon Sex!“ – „Ach was?!“ – „Ja!“ – „Hier, am helllichten Tag?!“ – „Ja, das war auch da hinten, da ist es etwas abgeschieden. Ein Pärchen. Das war heftig!“ Ich bin erschüttert. Ich versichere dem Verkäufer, dass ich allein bin und in keiner Weise sexuelle Handlungen an mir vornehmen werde.

Die Gänge des Möbelhauses sind mit grauem Flokati ausgelegt, man schläft schon im Gehen ein. Ich wähle das Bettenmodell „Evolution!“ Rrrrrrrrrrrssssssssssss! Ein Kundendienstmitarbeiter rüttelt vorsichtig an meinem Schuh. Ich schlage die Augen auf und fühle mich königlich ausgeschlafen. Ein Kundendienstmitarbeiter rüttelt vorsichtig an meinem Schuh. Ich schlage die Augen auf und fühle mich königlich ausgeschlafen.

Seite 11: So wird man eins mit dieser Stadt.

IM PARK UMARMEN

Auf dem Weg zum Hauptbahnhof fahre ich immer durch den Tiergarten. Von der Stauffenbergstraße kommend biege ich in die Große Querallee ein und lasse mein Rad gemächlich gleiten. Ich liebe das langsame, verhaltene Fahren. An einer großen Wiese halte ich, schiebe das Rad querfeldein und parke unter einer großen Eiche, Baum Nr. 38. Steht auf einer Plakette. Auch ein Herz ist eingeritzt. Mit dem Buchstaben „F“ in der Mitte.

Ich umarme den Baum. Bin ich ein Spinner? Klar! Niemand stört sich an mir. Höre ich was? Nein. Spricht der Baum? Nein. Mein Ohr wird heiß, ich spüre die gefurchte Rinde. Und ich fühle, wie ich Wurzeln schlage. Bin ich ein Berliner? Mittlerweile manchmal schon bisweilen für Momente. Und die Stadt? Gehört sie mir? Gehöre ich zu ihr? Manchmal wünschte ich mir, ich würde nicht so stadttaub und mitmenschenblind durch die Straßen laufen.

Manchmal wünschte ich mir den Berliner etwas verhandlungsbereiter, spontaner, albernheitswilliger und weitstirniger. Hier stehe ich und lausche den historischen Echos, die sich an diesem Stamm brechen. Er ist ein Nachkriegskind. Emporgewachsen nach dem großen Chaos, dem großen Mensch- und Holzschlagen. Die Stadt gehört uns, wenn wir begreifen, dass wir unseren Teil zu dem großen Theater beizutragen haben. Mehr als auf Steine, Prachtbauten und Denkmäler kommt es auf die Gestaltung des Alltags an.

Wir brauchen mehr Dialoganlegestellen! Mehr Spieltrieb! Mehr Wir-Artisten! Mehr Taten-Tankstellen! Mehr Teilnahme-Geschenke! Berlin verlangt uns Mutpröbchen, Mutproben ab. Probt Berlin! Ohne unsere Bereitschaft zum Sprung ins Ungewisse, ins Offene, ins Fremde, ja ins vermutet Feindselige kühlt die Stadt aus, schließt sich, wird stickig und eng. Umarmen wir uns, die Stadt, diesen Tag, das Fremde. Tschüss, Baum Nummer 38! Auf Wiedersehen! Güle Güle! Good bye!

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