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Berlin: Elke Gudlowski (Geb. 1937)

Hexe wurde sie genannt, wenn sie sich nicht fügen wollte.

Elke Gudlowski fiel auf. Sie war schrill gekleidet, sie war behängt mit Amuletten und Armbändern, sie sprach Menschen auf der Straße an und im Bus. Manchmal kniete sie sich nieder, um in einer Zeitung zu lesen, die auf der Straße lag. In Zeitungstexten erkannte sie verschlüsselte Botschaften, ebenso wie in den Schriftzügen auf den Mauern. Geheimnisse, Elke Gudlowski betreffend oder die ganze Menschheit, nur dass die meisten zu stumpf waren, sie zu verstehen. Und die Schriften hinter der Schrift, sie erzählten wenig Gutes, und Elke schaute den Passanten in die Augen, sprach zu ihnen über das, was sie gelesen hatte.

Und in den Passanten entstand ein Gefühl der Beunruhigung, das auch aus der Ahnung herrührte, dass hinter Elkes harten Worten irgendeine Wahrheit schlummerte. Es war die Wahrheit des Krieges, die sich unauslöschbar in Elkes Gedächtnis eingebrannt hatte.

Als Kind hatte sie Frauen gesehen, die niedergeprügelt und vergewaltigt wurden. Sie hatte gesehen, wie 15-jährige Hitler-Jungen zusammengetrieben und per Genickschuss getötet wurden. Sie hatte die Häuser in ihrer Zehlendorfer Straße brennen sehen. Sie hatte ihren Vater beobachtet, der mit angstverzerrtem Gesicht seine SS-Uniform im Teltowkanal versenkte. Es war ein Alptraum, der seine Zuspitzung fand im Schrei ihrer Mutter, die, bedrängt von einem Soldaten, forderte: Töte mich, töte meine Kinder!

Und nirgendwo war Trost, kein Arm, der sie gehalten hätte. Einmal kam Elke mit einem toten Hasen nach Hause, den ihr ein amerikanischer Soldat geschenkt hatte. Stolz war sie, froh, etwas geben zu können in dieser Zeit, in der sie sich mit ihren jüngeren Brüdern um die Krumen stritt, die beim Brotabschneiden herunterfielen. Die Mutter nahm ihr stumm das Tier aus dem Arm, bereitete es zu und verteilte es nach der familiären Rangordnung: Elke bekam zuletzt, und das Schrot auf ihrem Teller wog mehr als das Fleisch.

Diese Mahlzeit hat Elke nicht vergessen können, ein Fest der Lieblosigkeit, mit der die Mutter das älteste ihrer vier Kinder zu behandeln pflegte. „Hexe“ nannte sie Elke, wenn die sich nicht in die zugedachte Rolle der Haushalts- und Erziehungsgehilfin fügen wollte.

Doch Elke war zu jung, zu klug, zu trotzig, um sich von dem Grauen des Krieges und der fehlenden Zuwendung einschüchtern zu lassen, auch wenn das Leben ihr immer neue Fallbeine stellte. Sie war eine sehr gute Schülerin, doch das Abitur brachte sie nicht zu Ende. Ihre Krankenschwester-Ausbildung musste sie abbrechen, weil sie nach einer Feier betrunken in die Arme ihrer Oberschwester getorkelt war.

Wenn ich schon fliege, so dachte Elke, dann bitteschön hinaus aus Deutschland. Wenige Wochen später lag eine Postkarte aus England im Briefkasten der Gudlowskis: Es gehe ihr gut, schrieb Elke, sie arbeite als Haushälterin. Den Ort verriet sie nicht, zu groß war die Angst, dass die Mutter sie heimholen würde.

Als sie drei Jahre später wieder vor der Haustür stand, wurde sie mit einer Ohrfeige empfangen. Da war Elke 24, und immer noch fest entschlossen, sich Achtung und Unabhängigkeit zu erkämpfen. Wenig später aber starb ihre Mutter.

Neben Schränken voll edelster Kleidung hinterließ sie einen Schuldenberg, von dem keiner etwas geahnt hatte. Zwei Jahre stand Elke in einer Fabrik, um ihrer Mutter posthum den Luxus zu finanzieren. Und dann war Silvester, und die Schulden waren abbezahlt, und sie stand allein vor einem Spiegel und prostete sich zu.

Ein paar Jahre später wurde aus Elke eine fliegende Händlerin. Sie reiste nach Indien, nach Thailand und in andere exotische Länder, kaufte Taschen, Gürtel und Halbedelsteine, Dinge, mit denen das West-Berlin der siebziger Jahre sich begeistert schmückte. Und weil Elke noch dazu sehr schön und redselig und ein bisschen verrückt war, trug sie jeden Abend von ihrem Stand am Kurfürstendamm eine schwere Kasse nach Hause.

Zusammen mit ihrer Tochter, die einer kurzen Affäre entsprungen war, ging Elke auf die Demonstrationen jener Zeit, las politische Schriften, kannte viele aus der linken Szene.

Doch die Macht hatten andere, zum Beispiel der berüchtigte Baustadtrat Antes. Der beschloss, Charlottenburgs fliegenden Händlern die Konzessionen zu entziehen. Er fand das Straßenbild schöner ohne sie.

Damit brach Elke Gudlowskis Lebensmut. „Jetzt müssen wir von der Beletage in den Keller ziehen“, sagte sie zu ihrer Tochter. Und wieder war da keiner, der sie zu trösten vermochte.

Dabei wurde die Frau mit dem dunklen Haar, den braunen Augen und der zierlichen Figur von Männern umlagert. Eine größere Bedeutung wollte Elke ihnen nicht zugestehen. Zu groß war die Angst, dass einer Macht gewinnen könnte über sie, so wie die Soldaten Macht gehabt hatten oder ihre Mutter.

Sie besann sich auf das Schimpfwort, mit dem ihre Mutter sie gerufen hatte, wenn sie nicht richtig funktionierte: „Hexe“.

Das war der letzte Beruf, der Elke blieb, und sie wollte ihn gut machen. Sie verstand die Geheimsprache des Bösen, las esoterische Literatur und auch solche, die sich mit politischen Verschwörungen beschäftigte. An guten Tagen machte sie Fremden unentgeltlich das Horoskop, an anderen verfluchte sie mittels Worten oder Püppchen alle, die sich lieblos benahmen gegen sie oder gegen die Welt.

Einen Tag, nach dem sie aus ihrer Wohnung, in der sie schon die Kindheit verbrachte hatte, ausziehen musste, setzte ihr Herz aus. Anne Jelena Schulte

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