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Berlin: Elli Nestler (Geb. 1939)

Dann tanzen sie. Die Nacht gehört ihnen

Da steht sie, das Mädchen vom Dorf, mitten auf der Tanzfläche des „Ballhauses Resi“ in der Neuköllner Hasenheide. Das Orchester spielt, dass einem ganz schwindelig wird, und die Männer fordern sie immer wieder zum Tanz. Sie ist 21, kurzes blondes Haar, hübsches Gesicht und ein helles Lachen, das den wilden Trubel übertönt. Das Petticoat-Kleid betont ihre schlanke Taille und lässt die freien Beine ihre magnetische Wirkung entfalten. Die Wasserfontänen, die Musik: Es könnte die Kulisse zu einem Liebesfilm sein, als ein junger Mann, nur wenig älter, auf sie zutritt und sich vorstellt: „Dieter.“ – „Elli“, sagt sie. Dann tanzen sie. Die Nacht gehört ihnen.

Das war 1960. Elli wohnte bei ihrer Tante Martha und arbeitete als Maßschneiderin in einem angesagten Modegeschäft. Sie verdiente nicht einmal 100 Mark, doch alles was sie brauchte, um auf dem Laufsteg Berlin mitzuhalten, nähte sie sich selber, Hüte, Kleider, Jacken, gelernt war gelernt. Modisch, alles vom Feinsten, das mochte sie. Sie erinnerte sich, wie sie als Mädchen, kaum dass sie laufen konnte, sich den Schirm und die Handtasche der Mutter schnappte und durchs Dorf stolzierte. Die Nachbarn fragten: „Elli, wo willst du denn hin?“ – Sie: „Nach Berlin!“

Tote Pferde, Schüsse, der Planwagen, ein Russe, der Brot verteilt, auch diese Szenen tauchten wie grelle Lichter in ihren Erinnerungen auf. Die Mutter, die Brüder, die Tanten und Großeltern, die komplette Familie musste das Dorf Rackow in Pommern nach 1945 verlassen. Den Vater hat der Krieg nicht wieder zurückgegeben. Die Familie wurde nach Niedersachsen geschickt, wo Elli erst einmal ihren Typhus besiegen musste. In einem Kloster fieberte sie monatelang vor sich hin, bis sie eines Tages aus ihrem Bett krabbelte und nach dem Nachttopf suchte. „Jetzt hat sie es überstanden“, sagte die Nonne.

Elli absolvierte die Volksschule und eine Haushaltsschule. Doch obwohl sie ein Ostflüchtling war und arm aufwuchs, hatte sie ihren Traum von Berlin nicht vergessen. Zum Glück gab es noch die Tante Martha, Ellis Ticket raus aus der Provinz und hinein in den Trubel.

Dieser Dieter hatte es ihr angetan. Wie gut er tanzte, und sie auch nicht mehr an andere abgab. So wurde aus der Tanznacht ein Wochenende, ein Urlaub, eine Hochzeit, ein Sohn und schließlich 52 Jahre Ehe. In einem Gedicht an Dieter schrieb sie: „Bist immer da, wenn man dich braucht.“

Tanzen gehen, sich schick machen, dem Trubel ein Lachen beimischen, das machte Elli nun mit Dieter gemeinsam. Dafür schleppte er ihre schwere Nähmaschine, eine „Singer“ mit Motor und einer kleinen anmontierten Lampe, treppauf, treppab, von Wohnung zu Wohnung, bis sie in ein eigenes Haus zogen. Als der Sohn in die Schule kam, ging sie, obwohl sie nicht musste, wieder arbeiten, als Zuschneiderin und Verkäuferin in Modegeschäften. Morgens verließ sie als Püppchen das Haus, abends schmiss sie die Stöckelschuhe in die Ecke. Aber sie liebte es. Die Singer stand nun im Hobby-Keller, den eine Neonröhre mit gleißendem Licht übergoss, daneben standen Schneiderpuppen. Da entwarf sie das Hochzeitskleid für die Schwiegertochter und die Garderobe für ihren 50. Hochzeitstag, ein violettes Seidenkleid und ein Jackett mit Blumen bestickt, dezente Farben, verschlungene Muster.

Es sind die kleinen Dinge, die sie glücklich machten. Die Camel-Zigaretten, der Kaffee, die Kreuzworträtsel am Morgen, die täglichen Telefonate mit der Nachbarin und die herbstliche Jagd nach Pilzen im Wald. Selbst als sie schon erschöpft war von den vielen Operationen, ging sie mit der Familie auf Pilzsuche. Dann hatte sie eben einen Stuhl dabei.

Doch irgendwann wurde ihr Körper müde, und sie schlief noch vor dem Frühstück einfach ein. Am Abend wollte sie noch die Sportschau sehen.

Es sind die kleinen Dinge, die die Familie ihr ins Grab mitgibt: ihren Aschenbecher und den selbst gemachten Kranz getrockneter Rosen.

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