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Sophie K. und Matthias R. aus Köpenick erwarten ihr erstes gemeinsames Kind und müssen ohne Hebamme auskommen.

© Kai-Uwe Heinrich

Elternkurse in Berlin: Wie Familien lernen, ohne Hebamme zurechtzukommen

Viele Schwangere in Berlin finden keine Hebamme für die Betreuung im Wochenbett. In einem Kurs lernen einige, damit umzugehen.

Eine Fabriketage in Kreuzberg. Sieben Frauen mit runden Bäuchen sitzen im Kreis auf dem polierten Holzboden eines Pilatesstudios. Auf Gymnastikmatten und Kissen haben sie es sich so bequem wie möglich gemacht. Neben den Schwangeren sitzen die zukünftigen Väter. Die Paare wirken wie frisch verliebt. Manche halten Händchen, tuscheln oder flüstern sich etwas ins Ohr.

Heute soll hier ein besonderer Kurs stattfinden. Neben dem Zustand, dass die Frauen alle etwa in vier bis zehn Wochen ihr erstes Kind gebären werden, teilen sie auch noch eine weitere Gemeinsamkeit – die weniger erfreulich ist: Keine der Frauen hat eine Hebamme für die Wochenbettbetreuung gefunden. Denn das ist in Berlin aufgrund des Hebammenmangels momentan besonders schwer. In den Sommermonaten spitzt sich die Situation nochmals zu. Hebamme Nadine Dönecke, rot-blonde Haare, langes schwarzes Kleid, sitzt ebenfalls auf einer Gymnastikmatte. Sie leitet den Kurs für „Familien ohne Hebamme“ und möchte nun von den Teilnehmenden wissen: „Wie geht es euch mit dem Wissen, dass ihr die Tage nach der Geburt auf euch alleine gestellt sein werdet?“

Der Reihe nach beginnen die Frauen und Männer zu erzählen. Beunruhigt sind sie alle, der Grad der Verzweiflung ist allerdings unterschiedlich groß. Die Anwesenden kommen aus Reinickendorf, Neukölln, Weißensee, Köpenick und Prenzlauer Berg. Alle haben sie wochenlang die Hebammenlisten ihrer Umgebung abtelefoniert – erfolglos. Nun wollen sie sich von den vielen negativen Gedanken befreien. Der Grundtenor: optimistisch bleiben. Immerhin ist die Geburt eines Kindes ein freudiges Ereignis.

"Was, wenn es ein Problem beim Stillen gibt?"

Eine Frau, die aus Guatemala stammt, erzählt, dass ihre Mutter sie für drei Monate besuchen wird: „Sie wird uns helfen, deshalb ist meine Angst nicht besonders groß.“ Ihr Mann ist hingegen weniger entspannt. „Ich bin sehr nervös“, sagt er mit englischem Akzent. „Man weiß nicht, was einen erwartet. Was ist, wenn es ein Problem beim Stillen gibt? Was, wenn das Kind nicht genug zunimmt?“ Auch andere erzählen, dass sie Mütter oder Schwiegermütter in der Nähe haben; dass einige zukünftige Omas extra anreisen werden, um die Paare in dieser besonderen Zeit zu unterstützen.

Besonders hart trifft es allerdings ein künftiges Elternpaar aus Weißensee. „Wir haben noch nicht einmal einen Kinderarzt gefunden“, sagt der werdende Vater mit Brille und Vollbart. „Wenn es ein Problem mit dem Baby gibt, wissen wir überhaupt nicht, an wen wir uns wenden sollen.“ Soll man wegen des Ausschlags auf der zarten Neugeborenenhaut gleich ins Krankenhaus fahren? Ist es im Babybett luftig genug? Oder zieht es dort eher zu sehr? Wer wiegt das Baby regelmäßig und guckt, ob mit dem Bauchnabel alles in Ordnung ist? Und wer kontrolliert, ob der Dammriss bei der Mutter richtig verheilt?

Normalerweise kümmert sich die Hebamme in der sogenannten Nachsorge um solche Dinge. Nach der Geburt haben Mütter für acht Wochen einen gesetzlichen Anspruch auf Hebammenbetreuung zu Hause. Die Krankenkasse übernimmt die Kosten dafür. Doch ob eine Frau eine Hebamme findet oder nicht, wird ihr komplett selbst überlassen.

Wie viele Frauen in Berlin momentan davon betroffen sind, lässt sich nicht sagen. Eine verlässliche Statistik gibt es nicht. Es lässt sich nur erahnen, dass es nicht wenige sind. Immerhin haben 1711 Schwangere seit Dezember 2015 auf der „Landkarte der Unterversorgung“ des Deutschen Hebammenverbands angegeben, dass sie keine Hebamme fürs Wochenbett gefunden haben.

Das Aktionsprogramm des Senats kommt zu spät

Mit dem „Aktionsprogramm für eine sichere Geburt“ hat der Berliner Senat Anfang des Jahres verschiedene Maßnahmen beschlossen, die die Situation von Hebammen und Gebärenden verbessern sollen. Unter anderem sollen mehr Geburtshelferinnen ausgebildet werden und die Arbeitsbedingungen von Hebammen verbessert werden. Der Berliner Hebammenverband begrüßt diese Maßnahmen – die allerdings erst noch umgesetzt werden müssen. Bisher sei das nur „ein Blatt Papier“, sagt Simone Logar, die zweite Vorsitzende des Berufsverbands. „Nur wenn sich tatsächlich etwas an den Arbeitsbedingungen in den Geburtskliniken und auch sonst ändert, kann sich auch die Versorgungssituation für die Gebärenden verbessern.“

Das Problem ist nicht, dass es zu wenige Hebammen gibt. Zu viele Frauen steigen aber aus dem Beruf wieder aus, da auch die persönlichen Hausbesuche zu schlecht bezahlt werden. Lange Anfahrtszeiten könnten kaum bei der Krankenkasse abgerechnet werden, wie viele freiberufliche Hebammen beklagen. Vor allem für Schwangere in den Randbezirken ist es schwierig, eine Hebamme zu finden. Für die sieben Elternpaare aus diesem Kurs kommt der Aktionsplan des Senats sowieso viel zu spät.

Nach der etwa einstündigen Vorstellungsrunde richten sich alle Augenpaare hoffnungsvoll auf die Kursleiterin. Hebamme Nadine Dönecke sitzt im Schneidersitz auf ihrer Gymnastikmatte und sagt: „Ich finde es besonders tragisch, dass ihr als Erstgebärende niemanden für die Nachsorge gefunden habt.“ Wer schon einmal ein Kind entbunden habe, der habe es da leichter. Ihr Kurs sei ein Pilotprojekt. Nachdem die Hebamme – aufgrund der großen Nachfrage für Hausbesuche – selber viele Jahre immer wieder schwangere Frauen abweisen musste, sie schließlich merkte, dass die Frauen am Telefon, in den E-Mails und auch in der Facebook-Gruppe „Hebammenvermittlung Berlin“ immer verzweifelter klangen, wollte sie dem irgendetwas entgegensetzen. So entstand die Idee für diesen speziellen Vorbereitungskurs. Den Teilnehmenden gibt sie allerdings gleich zu verstehen: „Ich kann euch damit keine Wochenbettbetreuung ersetzen. Das wäre illusorisch.“ Medizinische Ferndiagnosen in die Zukunft – das geht nicht. Das Einzige, was sie in diesem Kurs tun könne, ist die Paare auf alle Eventualitäten vorzubereiten.

Der Kurs ist ein Pilotprojekt

An insgesamt drei Tagen werden die Teilnehmer für etwa vier Stunden zusammenkommen. Das Programm ist straff und als Ergänzung zu einem normalen Geburtsvorbereitungskurs gedacht, den die Paare alle auch noch absolvieren möchten. Nadine Doenecke konzentriert sich auf das Wochenbett. Wie funktionieren die Milchbildung und das Stillen? Woher weiß ich, ob das Baby genug trinkt? Was sieht, fühlt und braucht das Neugeborene? Wie sollten Eltern reagieren, wenn das Baby sich nicht beruhigen lässt, und welche Notfälle könnten eintreten, bei denen die Eltern unbedingt einen Arzt aufsuchen sollten?

Das erste Anliegen der Hebamme: die Eltern auf die größte Umbruchzeit ihres Lebens vorzubereiten. „Tag und Nacht werdet ihr euch ausschließlich um eure Kind kümmern müssen“, erklärt sie den werdenden Eltern, die teils ungläubig schmunzeln. Einige Frauen versuchen, mit ihren großen Bäuchen eine bequemere Sitzposition zu finden, während Nadine Dönecke weiterspricht: „Klar, die Babys melden sich, wenn sie etwas brauchen. Aber sie sagen nicht, was das ist. Das müsst ihr Eltern herausfinden.“

Nadine Dönecke weiß, wovon sie spricht. Seit 13 Jahren begleitet sie junge Familien während ihrer Wochenbettzeit. Schlafmangel, ein wimmerndes Kind, das die ganze Zeit getragen werden oder ununterbrochen an die Brust möchte. „Das kostet Kraft und Nerven.“ Dass Mütter und Schwiegermütter die Paare während dieser aufregenden Zeit begleiten werden, findet sie grundsätzlich gut, sie gibt den Frauen aber auch ihre Bedenken mit. „Die Großeltern könnten euch auch verunsichern“, warnt sie.

Nicht alle Ratschläge der älteren Generation seien immer richtig. So seien über Jahrzehnte hinweg krude Theorien darüber weitergegeben worden, dass Eltern ihre Kinder schreien lassen sollten. Außerdem hätten viele Mütter in den 70er und 80er Jahren ihre Kinder nicht gestillt. So könnten sie ihren eigenen Töchtern kaum Tipps dafür geben. Beim zweiten Treffen am folgenden Tag wird sie deshalb mit den Frauen das Stillen anhand von Puppen simulieren. Ihnen zeigen, wie ein Säugling richtig angedockt wird und woher man weiß, ob ein Kind Hunger hat oder wirklich satt ist. „Man glaubt nicht, wie viel dabei schiefgehen kann, wenn beispielsweise die Brust schmerzt oder ein Baby beim Trinken einschläft, weil es unterzuckert ist.“

Am zweiten Tag nach Kursende sind die Paare recht erschöpft, als sie die Treppenstufen der Fabriketage heruntergehen. „Das war ziemlich viel Input“, sagt Lena Söllner, 30 Jahre, Ergotherapeutin aus Weißensee. Ihr Entbindungstermin ist Ende Juli. Sie fühle sich nun besser vorbereitet, habe allerdings „noch größeres Bauchweh“ bekommen. „Wenn ich daran denke, was alles nach der Geburt passieren könnte, finde ich den Gedanken, keine Hebamme zu haben noch unerträglicher.“ Sophie Kirchenberg, 33, OP-Schwester aus Köpenick, findet, sie sei nun „besser gerüstet“. Ihr sei allerdings auch jetzt erst bewusst geworden, wie viele Fragen sie noch habe. „Ich fühle mich ziemlich alleinegelassen mit der Suche nach einer Hebamme“, klagt sie. Dieser Kurs sei das einzige Angebot, dass es für Frauen in ihrer Situation gibt.

Hebamme Nadine Dönecke ist froh, dass sie den Teilnehmern wenigstens ein bisschen helfen konnte: „Klar, es ist ein Tropfen auf den heißen Stein.“ Aber immerhin besser, als den jungen Eltern gar keine Hilfe anzubieten.

Kurzinfos:

Der Kurs für Familien ohne Hebamme ist ein Pilotprojekt, ob es weitere Kurse dieser Art geben wird, steht noch nicht fest. Falls ja, werden die Infos dazu in der Facebookgruppe „Hebammenvermittlung Berlin“ geteilt. Hebamme Nadine Dönecke bietet momentan keine Wochenbettbetreuung an, da sie sich in den nächsten Monaten um ihr eigenes Kind kümmert. Frauen, die keine Hebamme gefunden haben, können diese Unterversorgung melden, unter www.unsere-hebammen.de.

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