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Reise in die Erinnerung. Max Bergoffen legt mit seinem Bruder Leo bei ihrem Berlin-Besuch Blumen am früheren Elternhaus am Hackeschen Markt nieder. Stolpersteine erinnern hier an das Schicksal der jüdischen Familie.

© Doris Spiekermann-Klaas

Emigranten: Abschied von der Generation der Überlebenden

Seit 1969 lud der Senat zumeist jüdische Emigranten in ihre ehemalige Heimat Berlin ein. Jetzt kam die vorerst letzte Gruppe. Das Besuchsprogramm wurde eingestellt – es gibt nur noch wenige, die sich die Reise zutrauen.

Täglich hat Max Bergoffen, Jahrgang 1921, früher diesen kurzen Weg genommen: von der komfortablen Wohnung seiner Familie in den Hackeschen Höfen rechtsherum durch die schmale Oranienburger Straße, in der sein Vater Jakob eine Farbenhandlung betrieb, und dann wieder rechts in die Große Hamburger Straße zur Knabenschule der Jüdischen Gemeinde. Heute ist darin die Jüdische Oberschule. „Von der Wohnung aus konnte man den evangelischen und den jüdischen Friedhof sehen“, erinnert sich der elegante Herr aus Kanada.

In Berlin trifft er sich mit seinem jüngeren Bruder Leo und dessen Familie, die in Frankreich leben, um an den Hackeschen Höfen zwei „Stolpersteine“ im Gedenken an die Eltern verlegen zu lassen. Ihre Mutter Felli kam 1893 in Oswiecim bei Krakau zur Welt. 1942 wurde sie mit Ehemann Jakob Bergoffen in ihrer Geburtsstadt ermordet: Die Deutschen hatten den Ort 1939 in Auschwitz umbenannt. Vor den Nazis war die jüdische Familie ein Jahr vor Kriegsbeginn erst nach Prag, dann weiter nach Frankreich geflüchtet. Max konnte als Student von Prag nach England emigrieren. Für Leo und seine Eltern erwies sich Frankreich als Falle. 1942 verhafteten die Deutschen Felli und Jakob in Angers in Westfrankreich, im unbesetzten Teil Frankreichs nahm die französische Polizei Leo fest – auch er kam nach Auschwitz. Das Vernichtungslager überlebte er nur dank seiner Jugend. Im Beisein des Bezirksbürgermeisters von Mitte, Christian Hanke, wurden jetzt die beiden „Stolpersteine“ verlegt. Zwei Berliner haben diese beiden Steine des Kunstprojekts von Gunter Demnig gespendet. Leo Bergoffen: „Unsere Eltern haben kein Grab. Die Steine sind wie ein Grabstein für uns.“

Zusammen mit 78 zumeist jüdischen Emigranten aus Berlin ist Leo Bergoffen auf Einladung des Senats in seine Geburtsstadt zurückgekehrt. Es ist die vorerst letzte Gruppe, die bis Dienstag eine Woche lang Berlin besuchte. Seit 1969, als der damalige Regierende Bürgermeister Klaus Schütz (SPD) das Besuchsprogramm initiierte, folgten mehr als 35 000 Emigranten der Einladung. Nun gibt es nur noch vereinzelt Anträge: „Früher kamen rund vier Gruppen pro Jahr, jeweils 400 bis 500 Personen“, erinnert sich Rüdiger Nemitz, der das Einladungsprogramm im Berliner Rathaus koordiniert.

Diesmal sind ehemalige Berliner aus den USA, aus Kanada, Israel, England, Frankreich, Australien, Südafrika und Südamerika angereist. Nach der Begrüßung durch den Regierenden Bürgermeister Klaus Wowereit (SPD) im Roten Rathaus führt eine Busrundfahrt die betagten Gäste und ihre Begleiter durch „das neue Berlin“. Auf dem Programm stehen das Jüdische Museum, der Friedhof in Weißensee, der Bundestag, ein Opernbesuch und eine Bootstour mit Politikern durch die Innenstadt. Walter Momper, Präsident des Abgeordnetenhauses, berichtet auf dem Schiff in einer Ansprache auch vom neuen Rechtsextremismus und von Bürgern, die sich dagegen auflehnen. „Wir wollen Ihnen zeigen, dass Berlin heute eine andere Stadt ist als damals“, so Momper. „Die besten Botschafter Deutschlands sind die Emigranten.“

Vielen ist der Besuch nicht leichtgefallen. „Ich habe 60 Jahre gebraucht, um diesen Trip zu akzeptieren“, sagt Harry Keil aus Los Angeles in amerikanisch gefärbtem Berlinerisch. Bis heute hat er seine schrecklichen Erlebnisse während des Nationalsozialismus niemandem erzählt.

Für viele ist es wie ein Wunder, Berlin noch einmal wiederzusehen. Sylvia Brook, die einst in Lüneburg lebte und aus Las Vegas angereist ist, berichtet, dass ihr Bruder vor einigen Jahren die Einladung des Berliner Senats wütend zerrissen hat. Bei Hanna Fleck aus Aschdod (Israel) war es ihr israelischer Mann, der von Deutschland nichts wissen wollte. Nun sind die beiden alten Damen froh, die lange Reise doch auf sich genommen zu haben. Mit der letzten Einladung dieser Art ist es, als ob Berlin Abschied nimmt von einer ganzen Generation. Einige bekümmert es, wie verwildert der jüdische Friedhof in Weißensee ist. „Es gibt eben keine Angehörigen mehr, die die Gräber pflegen könnten.“ Karolin Steinke

Karolin Steinke

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