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Berlin: Endzeit-Erzähler

Stattreisen führt auf Spaziergängen durch die Stadt – zum Mauerfall-Jubiläum gibt es acht Touren mit persönlichen Erlebnissen

Der Mann klappt seine Stadtführermappe auf und präsentiert Fotos aus vergangenen Tagen: Volksarmee-Militärparade auf der Karl-Marx-Allee, das süße Leben im Sozialismus, wie es der Fries rund um das Haus des Lehrers zeigt, der Alex mit seinen Neubauten – manches steht noch, vieles ist nicht mehr wiederzuerkennen. Dann wird der Mann, dem inzwischen die Kälte übers Gesicht gezogen ist, persönlich: „Dies ist mein alter DDR-Personalausweis“, sagt er und zitiert das Vorwort des Dokuments, das jederzeit griffbereit sein musste, falls ein Volkspolizist danach fragte. Matthias Rau, der Stadtführer, weiß, wovon er spricht: Wegen seiner Aktivitäten in der Kirche durfte er nicht Medizin studieren, galt offiziell als „unständig Beschäftigter“, hatte engen Kontakt zu Oppositionsgruppen, zur Gethsemanekirche – und für ihn, den eingefleischten Prenzlauer Berger, war es kein Zufall, dass die Mauer zuerst am Grenzübergang Bornholmer Straße gestürmt wurde. Die Leute rechts und links der Schönhauser Allee seien irgendwie anders gewesen, das habe sich bei vielen Gelegenheiten gezeigt, bockiger vielleicht, seien ganz schnell auf den wahren Kern gekommen. Ein freigeistiges Biotop. „Und am 9. abends hing alles an einem ganz dünnen Seidenfaden, keiner wusste, wie es ausgeht …“.

Die Firma Stattreisen hat sich längst Leute wie Matthias Rau als sachkundige Berlin-Spaziergänger gesichert. „Sie haben eine ganz besondere Authentizität, können unsere Gäste vom Abstrakten zum Persönlichen führen und mit eigenen Erlebnissen geschichtlich bedeutsame Vorgänge plastisch machen“, sagt Jörg Zintgraf, der Geschäftsführer. Die 50 Mitarbeiter von Stattreisen haben 2008 fast 2000 Führungen auf die Beine gestellt. Im 26. Jahr ihres Bestehens haben die professionellen Spaziergänger den Mauerfall vor 20 Jahren zum Programmschwerpunkt erklärt: „Wir starten eine Serie von acht individuellen Führungen von Stattreisen-Mitarbeitern zu ihren persönlichen Erlebnissen und Orten des Mauerfalls aus östlicher und westlicher Sicht“, sagt Zintgraf. Dazu gehört ein Rundgang mit Carlo Jordan, einem der Gründer der „Umweltbibliothek“ in der Zionskirche. Ebenso gibt es die regelmäßige Führung „Grenzgänge – grenzenlos“ mit historischen Tondokumenten entlang der Mauer, eine Fahrradtour von Mitte bis Pankow und, vier Tage lang, rund um das einstige West-Berlin. Dazu noch die „Poesie von Ostwestberlin“, eine literarische Tour durch die geteilte Stadt, und schließlich die Kindertour „Vor der Mauer – hinter der Mauer“.

Matthias Rau bittet seine Premierengäste zur nächsten Station. Vom Alex geht es mit der U-Bahn zur Schönhauser Allee, in die Gethsemanekirche, zur Bornholmer Brücke. Und plötzlich ist sie wieder da, diese Spannung in der Endzeit eines Staates, den es nicht mehr gibt, wohl aber jene, die erzählen, wie das alles gekommen ist. Lothar Heinke

Termine und Themen: www.stattreisenberlin.de oder Tel.: 455 30 28.

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