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Blick über den Osten Berlins. Ist die Mediaspree der Riegel zwischen dem neuen und dem alten Osten?

© Kitty Kleist-Heinrich

Entgrenzt Euch!: Der Weg zu Berlins innerer Einheit ist noch weit

Berlin ist noch immer eine geteilte Stadt: Wer aus Schöneberg nach Friedrichshain zieht, verstört seine Freunde. Aber die Linien verlaufen nicht mehr nur zwischen Ost und West.

Friedrichshagen? Ihr wohnt in Friedrichshagen? Wo ist das denn? – Unsinn, wir wohnen in Friedrichshain. – Friedrichshain? Liegt das nicht im Osten? – Sozusagen. Kreuzberg. Oberbaumbrücke, Warschauer Straße, Reisepass ist nicht nötig, und dann seid ihr fast schon da. – Ihr seid in den Osten gezogen? Echt? Ein Dialog, wie ich ihn in den letzten zwölf Monaten häufig erlebt habe, mit Variationen. In der Tat sind wir nach vielen schönen Schöneberger Jahren abgewandert. Wir dachten, wir ziehen bloß um – was schon dramatisch genug ist –, aber bald wurde uns klar, dass wir Teil eines viel größeren Geschehens geworden sind.
Unfassbar: Mehr als zwanzig Jahre nach dem Fall der Mauer wundern sich Freunde und Kollegen, wenn man aus dem Westen wegzieht in den Osten. Es gibt anerkennende, bedauernde, ungläubige, belustigte Kommentare. Sehr gern wird die Wendung benutzt, die man auch nach einer Kindsgeburt hört: Das muss eine große Umstellung sein! (Hat damals schon genervt, als unser Sohn auf die Welt kam, und nervt immer noch.) Eine Wohnung im Osten Berlins zu nehmen, ist offenbar auch anno 2011 noch eine verblüffende Entscheidung.

Dabei haben wir die modischen Wellenbewegungen nach Mitte und Prenzlauer Berg seinerzeit bewusst nicht mitgemacht, hielten stolz und selbstbewusst die Schöneberger Fahne hoch, und dann ist es eben irgendwann passiert. Eine Wohnung hatte es uns angetan, es war Zeit für einen Wechsel, aus vielerlei Gründen. Hohe Miete, chaotische Hausverwaltung, am Bayerischen Platz und auf der Grunewaldstraße trat ein seltsamer Stillstand ein. Das hat Vorteile – diese Ruhe! Dieses Gefühl, gar nicht in einer großen Stadt zu leben. Auf Dauer ist es sicher auch praktisch, all die Ärzte und Apotheken und Physiotherapeuten in der Nähe zu haben – aber es ist kein gutes Gefühl, wenn der eigene Alterungsprozess sich so sehr in der unmittelbaren Umgebung spiegelt.

Die Stadt ist immer noch geteilt. Die Grenze ist in den Köpfen. Die Wahl zum Abgeordnetenhaus hat es gerade gezeigt. Das gibt es auch in anderen Großstädten und Ballungsräumen, aber in Berlin ist es weitgehend anachronistisch. Auch wenn der „Osten“ in der westlichen Vorstellung schrumpft – Mitte gehört nicht mehr dazu, Prenzlauer Berg vielleicht noch zur Hälfte, je nach Schwabendichte – gibt es ihn noch als überlebensgroße Schimäre. Die Stadt verändert sich schneller als das Bewusstsein, hat Franz Hessel schon in den 1920er Jahren über Berlin gesagt. In unserem Friedrichshainer Haus wohnen Ex-Bonner, Spanier, Franzosen, Spanier, eine Künstlerin aus dem Baltikum usw. Einen Problemnachbarn gibt es in jedem Haus, bei uns stammt er aus West-Berlin. Hat da die Grenzkontrolle versagt?

Wieso Friedrichshain nicht nur was für junge Leute ist, lesen Sie auf Seite 2.

Dass die Mentalität die Ortskenntnis überlagert, ist womöglich ein Berliner Charakteristikum. Und das gilt nicht nur für Taxifahrer. Inzwischen kenne ich mindestens sechs alternative (und immer gleichermaßen teure) Routen vom Flughafen Tegel in unsere Straße, die den Namen eines berühmten Himmelsforschers und Mathematikers trägt. Von ihm stammen folgende poetische Sätze: „So lenkt die Sonne, gleichsam auf königlichem Thron sitzend, in der Tat die sie umkreisende Familie der Gestirne. Auch wird die Erde keineswegs der Dienste des Mondes beraubt, sondern der Mond hat mit der Erde die nächste Verwandtschaft. Indessen empfängt die Erde von der Sonne und wird mit jährlicher Frucht gesegnet.“ So ist das. Während die Erde sich um die Sonne dreht, hat Berlin mehrere Gravitationszentren. Wahrscheinlich geht die Sonne im Osten unter, denn da tobt das Nachtleben. Auf der Warschauer Brücke verhält sich das Volk immer wie bei Vollmond. Oder wie kürzlich eine Kollegin meinte, die mir ein Flugticket überreichte: Tut mir leid wegen der schrecklich frühen Abflugzeit. Aber dafür ist es Tegel, nicht Schönefeld. – Was es nun gerade noch unangenehmer macht... Aber es besteht Hoffnung. Wenn der neue Airport eingeweiht ist, kehrt eine gewisse Gerechtigkeit ein. BBI wird für uns Ostler das sein, was Tegel uns Westlern damals war. Der Weg zur inneren Einheit ist weit. Kreuzberger wehren sich gegen Touristen, aber die waren auch schon zu Westzeiten komisch drauf. Kreuzberg war, auch geografisch korrekt, der Osten des Westens, und dann zerfiel der Bezirk noch in 36 (Ost) und 61 (West). Dazwischen lagen Welten.

Neukölln war für Versager, und wer in Moabit wohnen musste, hatte es nicht nach Schöneberg oder Charlottenburg geschafft. Schöneberg wiederum teilt sich scharf in Schöneberg-Nord (hui) und Schöneberg-Süd (pfui), bei Charlottenburg ist es genau umgekehrt. Heute bildet Mediaspree den Riegel zwischen dem neuen und dem alten Osten, wobei aufstrebende Familien und Kreative jetzt schon bis nach Lichtenberg ziehen. Der Bahnhof Ostkreuz wird schick renoviert, während manche Station auf dem Weg zum Wannsee in irgendeiner Nachkriegszeit verharrt. Sämtliche Angaben hier sind ohne Gewähr, man kann sich leicht irren und auch nicht ständig überall sein.
Als wir unseren Sohn, der so alt ist wie das angeblich wiedervereinte Berlin, in unsere Friedrichshainer Umzugspläne einweihten, kam es knallhart: Was wollt ihr da, das ist nur was für junge Leute...

Was stimmt – und auch wieder nicht. Nun wohnen wir beim Berghain, aber dürfen nur hinein, wenn es eine Kulturveranstaltung gibt, die dann auch garantiert um zehn oder elf zu Ende ist. Das sind die wahren Grenzen. Man ist so alt, wie der Türsteher drauf ist.
Inzwischen hat das Teilungsvirus, das viele Berliner und womöglich Großstädter überhaupt in sich tragen, unsere Straße erreicht. Der südliche Teil mit seinen fünfhundert Kneipen ist eine Rennstrecke für ständig übernächtigte und betrunkene Hostel-Gäste, der nördliche Teil hat’s ruhiger und netter und mehr Qualität überhaupt. So erklärte es mir jetzt eine Ladenbesitzerin, in deren Hund ich mich verlieben könnte.
Er stammt aus Spanien, und sein Name bedeutet Sonne. Ganz früher war es in der Tat einfacher. Aus West-Berliner Perspektive war überall Osten, in jeder Himmelsrichtung. Wenn man immer weiter nach Osten fährt, der Sonne entgegen, kommt man im Westen raus. In San Francisco oder Friedrichshain. Es dauert eben seine Zeit.

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