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Berlin: Erika Pietzsch (Geb. 1939)

Sechs Lizenzplatten für einen Urlaubsplatz auf Hiddensee

Durch diesen Schornstein will ich auch mal fliegen“, hatte Erika Pietzsch zu Daniel, ihrem Sohn, gesagt. Dabei musste sie lachen, denn der Moment, da dies passieren würde, war damals, vor Jahren, noch so fern. Die beiden hatten sich das neue Krematorium in Baumschulenweg angesehen, diesen Bahnhof der allerletzten Reise, den der Kanzleramts-Architekt Axel Schultes entworfen hatte. Die Säulenhalle beeindruckte sie, viel Raum, viel Licht.

Im Untergeschoss ist es nicht so hell und großzügig, dort gleiten nach dem Knopfdruck die Särge mit den Toten langsam ins Feuer. Angehörigen, die dabei sein möchten, wird ihr Wunsch erfüllt. Daniel Pietzsch wollte diesen letzten Moment erleben. Er wird ihn nie vergessen. Der endgültige Abschied dauert nur wenige Sekunden. Draußen erwartet Daniel das Wunder, vergebens: Aus dem Schornstein steigt weder weißer noch schwarzer Rauch.

In der Erinnerung werden die Erzählungen seiner Mutter lebendig: Wie einst, Mitte der fünfziger Jahre, im Abiturzeugnis stand, dass es sich bei Erika Dahmke aus Weißensee um die „Tochter eines Schweinemästers“ handelte, ein Kapitalistenkind! Ihre exklusiven Leberwurststullen tauschte sie gern gegen die Marmeladenbrote der Klassenkameraden. Die Hilfsbereitschaft der „Pietschen“, wie sie später oft genannt wurde, sollte noch oft gerühmt werden. Zum Beispiel von jenem „Monsieur“, dessen Bild in der kleinen Pietzsch-Wohnung im 19. Stock eines Hochhauses an der Leipziger Straße hängt: Alter Mann mit Baskenmütze, Rauschebart, gütigen Augen und einem Davidstern am Hals. Ihm war bei einem Besuch der Charité sein Stock auf den Boden gefallen, und die blonde medizinisch-technische Assistentin Erika, die gerade über den Flur kam, hatte selbstverständlich den Stock aufgehoben. Sofort sprangen die Funken zwischen Erika und dem einstigen Emigranten und Fremdenlegionär Max-Rudolf Lewin über. Unvermittelt fragte er, ob sie wisse, was das Wort Charité bedeutet? „Barmherzigkeit“, sagte er gleich selbst – und dieses Wort ist die Ouvertüre einer jahrelangen Beziehung von Liebe und Freundschaft, die darin gipfelt, dass Monsieur an die bulgarische Schwarzmeerküste trampt, vor dem Hotel seiner Freundin mit einem weißen Laken wedelt und ruft: „Ich habe unser französisches Bett dabei!“ Später, als er an sein deutsches Bett gefesselt ist und die Kräfte ihn verlassen, kümmert sich Erika um ihn.

Zu dieser Zeit liegt ihre Wohnungs- Odyssee durch den Berliner Osten längst hinter ihr. 1968 war sie von Ulli, einem philosophierenden Maler geschieden worden und zog mit ihrem fünfjährigen Daniel von der Belforter in die Heinrich-Roller-Straße in Prenzlauer Berg mit Blick auf den schönen alten Friedhof. Aber der Stuck konnte weder marodes Mauerwerk noch kalte Öfen wettmachen. Schließlich zogen Mutter und Sohn in einen Neubau in Friedrichsfelde, viel zu weit entfernt vom Inneren der Stadt. Dann hatte eine Tauschanzeige Erfolg. In der Leipziger Straße beginnt die schönste Zeit.

Als „Fachverkäuferin für Tonträger“ in einem kleinen, gut sortierten Schallplattenladen konnte sie ihr musikalisches Wissen mit vielen netten Kunden teilen, vor allem aber lernte sie, wie einstmals mit den Leberwurststullen, die Vorteile der landesüblichen Tauschbeziehungen kennen. Nebenan befand sich ein Mode-Exquisit-Laden, gegenüber ein Delikatessengeschäft. Die Verkäuferinnen wussten immer, wenn es in der Umgebung etwas Besonderes gab, oder wenn es einen Tischler gab, der Antiquarisches aufarbeitete, während ein anderer Autoteile für den Trabant auf Lager hatte. Sie konnte dagegen mit Lizenzplatten von den Beatles, Abba, Milva und Udo Jürgens aufwarten. Sechs Stück davon brachten ihr etwa einen Sommerurlaubsplatz auf Hiddensee ein, die FKK-Freundin liebte die Ruhe, die Natürlichkeit und die Weite der Insel. Ihr Sohn Daniel sollte die Reise Mitte der achtziger Jahre nie vergessen, weil er bei der Überfahrt seinen Lebensgefährten Klaus kennenlernte – seitdem hatte die Mutter zwei Söhne.

Dann war die Wende da: Mauer weg, Job weg. Wer kaufte noch Amiga-Platten? Erika Pietzsch sah zu, als unter ihrem Fenster die Mauer abgerissen wurde, sie fand eine Stelle als Sprechstundenhilfe bei einem Zahnarzt, die sie nie mochte, und beendete mit 60 Jahren ihr Berufsleben. Und der Genuss begann: Sie eilte zur Nofretete, die damals noch in Charlottenburg stand, sie fuhr mit Daniel nach Sylt – und fand es dort längst nicht so schön und natürlich wie auf Hiddensee. Jede Woche ging sie ins Kino, fuhr im Sommer immer wieder zum FKK-Strand am Müggelsee. Einmal radelte Wolfgang Joop auf sie zu, „Herr Joop, schön, dass ich Sie hier treffe“, rief sie. Er hielt an und rief zurück: „Meine Güte, sind Sie eine schöne Frau!“ – Erika korrigierte: „Danke. Ich war eine schöne Frau!“

Und dann, ganz plötzlich, war der Krebs da. In der letzten Stunde standen ihre beiden Söhne am Bett, und Erika fragte: „Wie spricht man eigentlich den lieben Gott im Himmel an?“ Lothar Heinke

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