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Berlin: Erprobte Hilfen ignoriert

Evangelisches Jugendwerk rügt Kinderschutz „Behörden sparen bei Angeboten freier Träger“

Immer mehr Berliner Jugendeinrichtungen fordern ein zuverlässigeres Kinderschutzsystem. Das Evangelische Jugend- und Fürsorgewerk (EJF) Lazarus plädierte gestern für eine bessere Zusammenarbeit zwischen Jugendämtern, Schulen und freien Trägern der Kinder- und Jugendhilfe. „Im Dschungel der verschiedenen Stellen gehen viele Familien verloren“, sagte Sigrid Richter-Unger von der Beratungsstelle Kind im Zentrum in Mitte. Es gebe zwar Beispiele guter Kooperation. In vielen Fällen reagierten Ämter und Gerichte aber zu spät.

Viel zu zögerlich griffen die Behörden auf die erprobten Angebote der Wohlfahrtsverbände zurück, hieß es gestern. „Aus Kostengründen gibt es immer wieder Fehlentscheidungen“, sagte der Lazarus-Vorsitzende Siegfried Dreusicke. Auch der Leiter des Referats Kinder- und Jugendhilfe im Bundesfamilienministerium, Reinhard Wiesner, sprach gestern von einem Spardruck in den Jugendämtern. Auf die kostenintensiven Angebote freier Träger würde häufig als Erstes verzichtet, sagte Richter-Unger. Erst vor wenigen Tagen haben Polizisten zufällig einen neunjährigen Jungen in einer verwahrlosten Wohnung entdeckt. Zuvor waren in Marzahn zwei vernachlässigte Kleinkinder vom Jugendamt in Obhut genommen worden.

Einig waren sich Sozialarbeiter und Vertreter von Einrichtungen gestern in der Forderung nach einem Frühwarnsystem. Die Lazarus-Gesellschaft befände sich deshalb in Gesprächen mit dem Universitätsklinikum Charité. Beispielhaft sei die kürzlich im Vivantes-Klinikum Neukölln gegründete Kinderschutzgruppe. In dem Projekt arbeiten Kinderärzte, Psychologen und Sozialarbeiter zusammen. Die Initiative soll klären, ob bei einem Verdacht – etwa blauen Flecken – tatsächlich häusliche Gewalt zugrunde liegt. Die Kollegen sollen gerufen werden, wenn Verletzungen, Entwicklungszustand oder der Umgang der Eltern mit dem eigenen Nachwuchs den Verdacht nahelegen, dass hier ein Kind misshandelt oder vernachlässigt worden ist.

Ausdrücklich begrüßte das Evangelische Jugend- und Fürsorgewerk die geplanten Gesetzesänderungen, mit denen es Familiengerichten zukünftig leichter gemacht werden soll, Eltern für einige Wochen das Sorgerecht zu entziehen. Das EJF Lazarus unterhält in Berlin und Brandenburg fast 70 Einrichtungen der Kinder-, Jugend- und Familienhilfe. Rund 700 Mitarbeiter betreuen derzeit 3 000 Kinder und Jugendliche in Kindertagesstätten und Wohnprojekten.

Allein im vergangenen Jahr zählte die Polizei in Berlin mehr als 700 Fälle von sexuellem Missbrauch von Kindern, fast 500 angezeigte Kindesmisshandlungen und 314 bekannt gewordene Vernachlässigungen. Dabei sind laut „Deutsche Kinderhilfe Direkt“ mehr als 700 Berliner Kinder schwer verletzt worden. Die Dunkelziffer ist nach Angaben von Experten deutlich höher.

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