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Insignien der Stasi. Bei der Erstürmung der Lichtenberger Zentrale deckten sich Demonstranten mit Souvenirs ein und posierten für Fotos. Der Schrecken war vorbei.

© picture alliance / Peter Kneffel

Update

Erstürmung der Stasi-Zentrale 1990: Als vor 30 Jahren der Volkszorn in Berlin tobte

Am 15. Januar 1990 erstürmten Tausende die Stasi-Zentrale in Lichtenberg. Heute streiten sich Historiker, welche Rolle der Geheimdienst dabei spielte.

Es war eine Verlockung, der konnte Wolfgang Templin sich nicht entziehen. Die Turbulenzen der Geschichte hatten den DDR-Bürgerrechtler bis in das nun verwaiste Büro seines obersten Peinigers Erich Mielke gespült, doch wie verhält man sich dort? Einfach nur nachdenklich darin verharren? Oder irgendwie ein Zeichen setzen, und sei es nur für sich selbst?

Nun, Templin schritt zum Schreibtisch der Macht, ließ sich in den Ministersessel sinken, griff zum Telefonhörer, rief seine Frau an. Ein Moment gemischter Gefühle, wie er sich in einem TV-Interview erinnerte – „nicht nur Erleichterung, sondern auch Triumpf“.

30 Jahre liegt dieser Moment am Mittwoch zurück. Am 15. Januar 1990, zwei Monate nach dem Fall der Mauer, wurde die ehemalige Stasi-Zentrale in Lichtenberg von Demonstranten gestürmt. Dass es zu einer wie auch immer gestalteten Besetzung des ehemaligen Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) kommen würde, war seit langem überfällig.

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Am 18. November 1989 war das Ministerium unter der Regierung Modrow in Amt für Nationale Sicherheit – im Volksmund bald „Nasi“ – umbenannt und seine Verkleinerung beschlossen worden.

Um der Vernichtung von Dokumenten durch die Stasi zuvorzukommen, hatten Bürgerkomitees Anfang Dezember in Erfurt, Leipzig, Schwerin und Suhl die dortigen MfS-Bezirksverwaltungen gestürmt. Ausgerechnet die Berliner Zentrale blieb unbehelligt. Für die Mitarbeiter in der Normannenstraße war also genügend Zeit, sich auf einen Besuch vorzubereiten.

Man einigte sich auf eine „Sicherheitspartnerschaft“

Die regionalen Bürgerkomitees waren es auch, die die Initiative ergriffen, um diesen bedenklichen Zustand zu beenden. Verabredetes Datum, um aktiv zu werden: der 15. Januar. Die Delegation hatte sich in drei Gruppen aufgeteilt. Eine sollte bei dem in Ost-Berlin tagenden Runden Tisch vorstellig werden, eine zweite bei Polizei und Staatsanwaltschaft.

Die dritte begab sich in die Normannenstraße, um mit den Geheimdienstchefs zu verhandeln – ein Treffen, das anstandslos hingenommen wurde und zu dem sich auch Vertreter der anderen Sicherheitsbehörden und der Regierung einfanden. Man einigte sich auf eine, wie es damals hieß, „Sicherheitspartnerschaft“ – die Bastion war gefallen, bevor ihre Erstürmung begonnen hatte. Und die mit Vorliebe bärtigen Volksvertreter lösten später bei den anrückenden Volksmassen einige Irritation aus, als sie neben den wenigen noch anwesenden, durchweg glattrasierten Stasi-Leuten – der Hauptteil der Belegschaft war vorsorglich nach Hause geschickt worden – aus den Fenstern der Behörde blickten. Niemand wusste ja zu diesem Zeitpunkt von der Initiative der Bürgerkomitees.

Dazu aufgerufen, sich am Nachmittag des 15. Januar auf den Weg zur Normannenstraße zu machen, hatte das Neue Forum. Geplant war eine Protestkundgebung. An eine Besetzung oder Erstürmung sei schon deswegen nicht gedacht worden, weil man ja nicht gewusst habe, wie das Kräfteverhältnis sein würde, erinnert sich Reinhard Schult, einer der Organisatoren.

Tausende stürmten in die ehemalige Machtzentrale

Doch Tausende strömten zu Mielkes ehemaliger Machtzentrale, die Initiatoren hatten noch für Steine und Mörtel gesorgt, um die Stasi-Zentrale symbolisch einzumauern. Dass die Steine später als Wurfgeschosse zweckentfremdet wurden, war ganz und gar nicht im Sinne des Neuen Forums, dem die Initiative zunehmend entglitt.

Die Menge wurde immer erregter, Vor dem Tor in der Ruschestraße hatte sich eine Gruppe von Protestlern gebildet, die „unwahrscheinlichen Druck gegen das Tor machten“, teilweise Steine hinüber warfen – so schildert es Michael Schreiber, Mitglied des Neuen Forums. Und plötzlich sei das Tor „wie von Geisterhand“ aufgegangen und alles hineingeströmt.

Einer der Protestler war hinübergeklettert und hatte das Tor geöffnet. Die Gebäude lagen im Dunkeln, nur im langgestreckten Haus 18 parallel zur Normannenstraße war Licht, und dorthin vor allem zog es die Erstürmer der Stasi-Burg. Untergebracht war dort das Dienstleistungs- und Versorgungszentrum des Areals. Dort bekamen die Bürger zu sehen, was für auserwählte Kreise in der DDR möglich gewesen war, etwa im Kühlraum Kartons voller Rindfleisch.

Der Volkszorn tobte sich aus

Es blieb nicht beim Bestaunen dieser Schätze. Der Volkszorn hatte ein Ziel gefunden und tobte sich aus: Regale wurden umgestoßen, Scheiben zerschlagen, Papiere verstreut oder aus dem Fenster geworfen, und manch einer ließ Erinnerungsstücke mitgehen. Doch wogte dieser Sturm der Empörung nur räumlich begrenzt, machte vor dem Gebäude der Hauptabteilung Aufklärung Halt, an das einer der Mitarbeiter ein Pappschild mit der Aufschrift „Auslandsnachrichtendienst der DDR“ gehängt hatte. Spione? Das wurde respektiert.

Folgenlos blieb dieser historische Abend nicht

Beim parallel tagenden Runden Tisch hatte man vom Treiben bei der Stasi gehört, einige Bürgerrechtler hetzten los, um die brisante Situation zu entspannen. Auch Modrow eilte herbei, musste sich erst gegen ein Pfeifkonzert durchsetzen. „Meine Aufgabe als Ministerpräsident kann ich nur erfüllen, wenn ihr gewaltlos bleibt“, rief er der Menge zu." Wer alles zerschlägt, muss wissen, dass er sich am Ende am meisten schadet." Nach einigen Stunden war die Energie des Protests wohl verbraucht, das Areal leerte sich.

Folgenlos blieb dieser historische Abend aber nicht. Ein Bürgerkomitee und ein Einlassdienst wurden gegründet, kontrollierten nun den Zugang. Manches allerdings blieb fragwürdig, löste eine bis heute nicht ganz erloschene Diskussion um die Bedeutung des Abends aus, um die Rolle auch, die die Stasi dabei gespielt haben könnte.

War der Sturm auf ihr Machtzentrum teilweise von ihr inszeniert worden, um die Revolution zu diskreditieren, die nun „ihre Unschuld verloren“ habe, wie das SED-Blatt „Neues Deutschland“ schrieb? Und war das neue Kontrollkomitee wirklich effektiv oder nur ein von der Stasi begrüßtes Feigenblatt, hinter dessen Tarnung sich problematisches Archivmaterial um so leichter entsorgen ließ? Die Meinungen der Historiker gehen noch heute auseinander.

Auch in der TV-Serie "Weissensee" wird der Sturum auf die Stasi-Zentrale gezeigt

Doch unabhängig von deren Disput bleibt der 15. Januar 1990 ein historischer Tag, über den sich spannende Geschichten erzählen lassen. Ein Wende- und Endpunkt in der deutschen Geschichte, der sich auch in fiktionalen Erzählungen über diesen zeitlichen Abschnitt kaum aussparen lässt. Schon gar nicht in einer ARD-Serie wie „Weissensee“, in der das Schicksal zweier Ost-Berliner Familien Kupfer und Hausmannvon 1980 bis 1990 geschildert wird. Die dritte Staffel mündet in der Erstürmung der Stasi-Zentrale, bei der zwei Brüder, in unterschiedlichen Lagern stehend, aufeinandertreffen – eine gelungene Verschmelzung von privater und politischer Geschichte.
Die Folge wurde im Herbst 2015 ausgestrahlt, etwa zur selben Zeit wurde der Roman „Unschuld“ des US-Autors Jonathan Franzen veröffentlicht. Auch dort wird der Sturm auf die Stasi-Zentrale zum Teil der Geschichte, doch auf zwei Seiten nur und eher ernüchternd: „Die ganze Aktion war symbolisch, rituell, folgte vielleicht sogar einem Drehbuch.“

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