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Eine junge Frau mit Kippa.

© picture alliance / dpa/Britta Pedersen

„Es reicht nicht von diskriminierendem Verhalten zu sprechen“: Generalstaatsanwältin fordert Antisemitismus klar zu benennen

Motiv Antisemitismus soll klar benannt werden Generalstaatsanwältin Koppers appelliert an Richter, den Begriff nicht mehr zu umschreiben.

Ein Tag im Juni 2019, eine Frau sitzt mit Davidstern-Sticker und T-Shirt-Botschaft „I love Israel“ in einem Café am Ku’damm. Plötzlich baut sich ein 20-Jähriger vor ihr auf und sagt: „Hitler sollte zurückkommen. Der Rest von euch sollte auch vergast werden.“ Der 20-Jährige wird wegen Volksverhetzung und Beleidigung angeklagt. Und Claudia Vanoni, die Antisemitismusbeauftragte der Generalstaatsanwaltschaft Berlin, hofft, „dass das Gericht das Motiv ganz klar antisemitisch benennt“.
Der Appell ist offenbar nötig. Bisher würden in vielen Gerichtsverfahren klar erkennbare antisemitische Motive als solche nicht bezeichnet. Das stellen Claudia Vanoni und Margarete Koppers, die Generalstaatsanwältin von Berlin, gemeinsam fest. Dass in diesem Punkt eine Änderung eintreten soll, das ist die wichtigste Botschaft, als sie am Mittwoch gemeinsam die Bilanz der Antisemitismusbeauftragten für den Zeitraum 1. September 2018 bis 31. Dezember 2019 vorstellen.

Rund 80 Prozent der Opfer zeigen Taten nicht an

Die Oberstaatsanwältin Vanoni ist seit 1. September 2018 Antisemitismusbeauftragte. Im zweiten Halbjahr 2019 gab es 248 Verfahren mit antisemitischem Hintergrund, 2019 insgesamt 386. Von diesen Verfahren wurden 42 Prozent (2018) beziehungsweise 44 Prozent (2019) eingestellt, weil entweder die Täter nicht ermittelt werden konnten oder kein hinreichender Tatverdacht bestand. 2018 wurden 29 Verfahren rechtskräftig abgeschlossen.

Strafbilanz: 19 Geldstrafen, zwei Freiheitsstrafen (zur Bewährung), eine Einstellung des Verfahrens gegen eine Geldauflage, fünf Verfahren eingestellt, ein Freispruch. 2019 gab es in 27 rechtskräftig abgeschlossenen Verfahren unter anderem 17 Geldstrafen, eine Freiheitsstrafe (zur Bewährung) und eine Unterbringung in der Psychiatrie. Bedeutsam ist allerdings auch eine andere Zahl: Koppers und Vanoni gehen aufgrund aktueller Studien davon aus, dass rund 80 Prozent der Opfer von antisemitischen Taten erst gar nicht zur Polizei gehen.
Für Margarete Koppers hängt das auch in erheblichem Maß damit zusammen, dass Gerichte bei Taten mit antisemitischem Motiv vor allem in der mündlichen Urteilbegründung, bei der die Öffentlichkeit zuhört, den Begriff „Antisemitismus“ als Motiv nicht benennen. „Stattdessen wird er wortreich umschrieben, weil es kein juristischer Begriff ist, oder bei der Untersuchung der Tat wird das Motiv nicht tief genug erforscht“, sagt die Generalstaatsanwältin. Für Betroffene sei dies „ein Mangel des Bewusstseins der Strafjustiz“. Aber zumindest jene Staatsanwälte, für die sie Verantwortung hat, sollen eine klare Sprache sprechen.

Hinter Hasskriminalität steckt ein System

„Wichtig ist, dass wir als Strafverfolgungsbehörde am Motiv dranbleiben und den Begriff klar benennen, wenn er angebracht ist.“ Claudia Vanoni, die viel mit Vertretern jüdischer Bürger und anderen Organisationen, die Antisemitismus bekämpfen, in Kontakt ist, hört aus der Community oft, „dass es für die Betroffenen wichtig ist, dass antisemitische Motive klar benannt werden. Es reicht nicht, nur von diskriminierendem Verhalten zu reden.“
Margarete Koppers ermuntert ihre Staatsanwälte auch, bei Hasskriminalität „Mut zu zeigen und auch Taten anzuklagen, bei denen es keine klare Rechtsprechung gibt“. Sie redet vom „System“, von Taten, die sich von einem Einzelfall enorm abheben. „Wenn sich 500 Menschen zusammenschließen, um einen Einzelnen mit einem Shitstorm fertigzumachen, der einen Tweet veröffentlicht hat, steckt ein System dahinter“, sagt sie. Damit bekäme eine Anklage eine ganz andere Tragweite. Das gelte auch für Taten im Internet, hinter denen antisemitische Motive steckten.

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Aber noch eine Entwicklung wollen Margarete Koppers und Claudia Vanoni vorantreiben: die Kommunikation mit Opfern. „Wenn es darum geht, Betroffenen zu erklären, warum Verfahren eingestellt werden, können wir noch besser werden“, sagt die Generalstaatsanwältin. Nur so könne man erreichen, „dass sich die Betroffenen ernst genommen fühlen“. Und überhaupt: „Wir haben gelernt, dass wir grundsätzlich viel intensiver Gespräche führen müssen.“ Vor allem gibt es noch Erklärungsbedarf, wenn die juristische Bewertung mit der emotionalen Wahrnehmung von Nichtjuristen zusammenprallt. Im Oktober 2019 zog ein Syrer vor der Synagoge in der Oranienburger Straße plötzlich ein Messer vor zwei Objektschützern. Die fühlten sich nachvollziehbar bedroht. Doch rein juristisch gesehen lag keine Bedrohung vor, deshalb wurde der Mann auch nicht in U-Haft genommen. Ein medialer Aufschrei war die Folge. „Da haben wir die Breitenwirkung nicht gesehen und nicht erkannt, wie der Vorfall medial aufbereitet wurde“, sagt Margarete Koppers. „Wir hätten viel früher in die Offensive gehen und den Fall erklären müssen.“

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