zum Hauptinhalt

Berlin: Esther Blumenberg (Geb. 1926)

Einst eine „Schicksalslose“, bestimmte sie seit 1945 selbst über ihr Leben.

Ihren zukünftigen Mann Szyja lernt Esther 1945 an einem Gleis auf dem Bahnhof des polnischen Städtchens Tarnów kennen. Er wirbt dort an den Zügen mit überlebenden Juden für die Ausreise nach Israel. Dass sie mit ihm gehen wird, eröffnet sie ihrem Vater, der droht, dass sie sich nie mehr wiedersehen werden. Esther geht trotzdem. Sie ist 19 Jahre alt.

„Schicksalslos“ nannte der Schriftsteller Imre Kertész die Leben der verfolgten Juden, die nicht selbst über ihre Geschicke bestimmen konnten. Esther wird um ein eigenes Schicksal kämpfen.

Als fünftes Kind und ältestes Mädchen von insgesamt zehn Geschwistern kommt Esther 1926 in einem polnisch-jüdischen Elternhaus in Fulda zur Welt. In der Schule ist sie, die Jüdin, dem Spott der Mitschüler ausgesetzt. 1933 unternimmt ihr Vater eine Geschäftsreise nach Frankreich, nach Deutschland lässt man ihn nicht zurück. Was als großes Unheil erscheint, erweist sich als Glück: Die Familie folgt dem Vater und entkommt so dem Terror der Nazis.

Aber auch in Frankreich dürfen sie nicht lange bleiben, 1935 müssen sie das Land verlassen. Über die Schweiz, Österreich und die Tschechoslowakei gelangen sie nach Polen, und als auch dort ihr Leben bedroht ist, ziehen sie weiter ostwärts. Sie landen in einem Winkel tief in Weißrussland, in den die Deutschen im Krieg nie vordringen werden. Mit dem Pferdekarren sind sie unterwegs, manchmal zu Fuß, sie verdienen etwas Geld als Waldarbeiter. Esther lernt die russische Sprache, die sie später mit ihren polnischen und jiddischen Kenntnissen in der jüdischen Gemeinde zu Berlin nutzen wird, um Einwanderern aus Russland zu helfen.

Die Familie wird auf der Flucht auseinandergerissen: Ein Bruder schließt sich der polnischen Armee an, zwei Geschwister bleiben in Paris versteckt, ein Bruder heiratet seine französische Freundin, die ein Kind von ihm erwartet. Nur kurz währt sein Glück, aus dem französischen Internierungslager wird er nach Auschwitz verschleppt und dort ermordet.

Die Mutter, völlig erschöpft, stirbt 1944. Esther muss ihre Aufgaben übernehmen und lernen, sich energisch durchzusetzen. Dass ihr das bestens gelingt, wird nicht nur im Familienkreis bekannt, sondern, viel später, auch im Berliner KaDeWe. Dort wird sie als Verkäuferin arbeiten; und ebenso, wie sie sich nicht scheut einen jungen Mann, der auf der Straße ausspuckt, heftig zu tadeln, weist sie auch ihre Vorgesetzten deutlich auf ihre Fehler hin. Mitunter geht sie zu weit und beschämt die Leute. Wann aber genau der Rahmen des sozialen, verantwortlichen Handelns verlassen wird und Kritik nur noch zu großer Verlegenheit führt, ist eben ein jahrhundertalter Streit der Rabbiner.

Ende der fünfziger Jahre kehrt Esther mit ihrem Mann und den zwei Söhnen nach Deutschland zurück. „Wild und Geflügel“ steht auf dem Schild über dem Eingang des kleinen Lebensmittelgeschäfts, das sie in Frankfurt am Main eröffnen. Nach der Trennung von ihrem Mann, Ende der siebziger Jahre folgt Esther ihren Söhnen nach Berlin. Der eine studiert dort, der andere, den Esther überleben und tief betrauern wird, arbeitet als Bildhauer. Stolz ist sie auf die Söhne, den Enkel und die Urenkelin, die ihre ersten wackeligen Schritte in Esthers Wohnzimmer macht. „Es sind doch die Eigenen“, erklärt sie ihre manchmal ausufernde Fürsorge: Einmal erscheint sie mit drei Torten bei einer Feier, zu der sie eigentlich nichts mitbringen sollte. Ein anderes Mal fährt sie bei der Schwiegertochter mit einem Taxi vor, das sie mit Sonderangeboten aus dem KaDeWe vollgelanden hat – lauter Dinge, die niemand gebrauchen kann.

Auch wenn sie mehrmals in der Woche an den Dialyseapparaten hängt, versäumt sie es nicht, Ärzte und Schwestern auf Missstände im Krankenhaus aufmerksam zu machen.

Von ihren noch lebenden Geschwistern können nur wenige zur Beerdigung kommen, zu weit auseinander hat sie ihr Schicksal über den Erdball verstreut. Henriette Dushe

Henriette Dushe

Zur Startseite