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Berlin: Esther Ulm (Geb. 1968)

„Wenn ich nicht mehr bin, pass gut auf meine Kinder auf!“

An ihrem 18. Geburtstag hat sie genug. Es bricht aus ihr heraus, angestaut und in drei Worte gepresst: „Ich ziehe aus.“ Zwei Wochen später macht sie die Haustür zu, geht die Treppe runter, lässt alles zurück. Den Stiefvater, der meckert und schimpft. Den Halbbruder, um den sie sich immer kümmern muss. Ihre Mutter, die sie nie verteidigt hatte. Esther Ulm will den Neustart, einfach los und alles anders machen.

Sie verlässt ihre Heimatstadt. Der Abteilungschef im „Volkseigenen Betrieb Seereederei Rostock“ braucht dringend eine Sekretärin in Berlin. „Könn’se haben, Genosse, aber nur mit eigener Wohnung“, sagt Esther. Weil ihr Chef Kontakte hat, sitzt Esther kurze Zeit später in einer Neubauwohnung mit eigenem Telefon mitten in der Hauptstadt.

Esther kennt niemanden. Das macht nichts, lernt sie eben jemanden kennen. Darin ist sie gut. Sie geht auf einen zu und kommt ins Gespräch, einfach so. Wenn sie lacht, will man mitlachen. Wenn sie schimpft, will man mitschimpfen. Man merkt, dass sie sich für einen interessiert. Ihre Spezialität sind bissige Kommentare und Sprüche. „Heb die Haare“ zum Abschied oder „Das ist doch echter Mäusemist“, wenn sie sauer ist. Ist man mit Esther befreundet, kann man sich sicher sein, dass sie sich melden wird. Sie ruft an, schreibt Briefe, kommt zu Besuch. Zu Geburtstagen kriegt jeder ein besonderes Geschenk. Freunde sind wichtig.

Es gibt ein Foto aus ihrer Jugend, da schaut sie mit ihren großen braunen Augen in die Kamera. Es ist ein Bild zum Verlieben, dazu diese Bernsteinkette, die weiße Bluse, die langen Haare. Die Jungs aus ihrer Schule sind verzweifelt, an Esther ist kein Rankommen. Ein Kuss ja, mehr aber nicht. Auch Frank aus Kühlungsborn durfte sie küssen. Das war 1988, eine Sommernacht, eben noch die wirbelnde Tanzhitze im Jugendclub, dann der Dünenwind, das Meer, die Sterne, die Lippen berühren sich zum Abschied, in der Hand der Zettel mit ihrer Telefonnummer.

Von der gelben Telefonzelle hinterm Campingplatz läuft der Beziehungsdraht von der Ostsee nach Ostberlin. Wenn Frank 50 Pfennig reinwirft, rasselt das Stück einfach durch und liegt wie neu im Münzfach. Freiminuten auf Kosten des Staates, in dessen Schule Esther geht, der sie ausbildet, in dessen Pioniergruppe sie Kabarett spielt und in dessen Chor sie singt. Als es mit dem Staat aber zu Ende geht, ist Esther erleichtert. Sie weiß von der Stasi und dem Unrecht. Doch sie wird auch Jahre später noch fuchsig, wenn sie arrogante Kommentare aus dem Westen hört. Es war nicht alles schlecht und böse.

1994 erwischt sie die Arbeitslosigkeit. Bewerbung, Ablehnung, Bewerbung, Ablehnung. Sie fragt sich, was aus ihr noch werden soll. 1995 wird sie wenigstens zu einem Vorstellungsgespräch eingeladen, Finanzabteilung in einer NGO. Sie findet die Interviewerinnen einfühlsam wie zwei Kühlschränke und sieht nicht den Funken einer Chance. „Die haben doch Angst, dass ich schwanger werde.“ Doch Esther bekommt den Job – und wird schwanger.

Mit viel Liebe will sie alles besser machen, als sie es selbst als Kind erlebt hat. Schicke Kleidung, eine Kunst- und Musik-Kita, Ballettunterricht, tolle Kindergeburtstage. Zuhören, Zeit nehmen. Esther reißt sich beide Beine für ihre Tochter aus. Als diese aufs Gymnasium kommt, befreit Esther sie von den Haushaltspflichten. Sie selbst musste damals so viel übernehmen, dass ihr keine Zeit mehr zum Lernen blieb. Frank und Esther kaufen ein Haus, heiraten, bekommen 2006 eine zweite Tochter. Alles passt zusammen. Über schlampige Abrechnungen der NGO-Mitarbeiter schimpft Esther, auch über die Überstunden, manchmal will sie alles hinschmeißen, aber eigentlich liebt sie es. Gebraucht zu werden, die Kollegen und Gutes zu tun. Perfekt.

„Frank, die haben das was gefunden.“ Erst war es nur ein Ziehen im Bauch, das einfach nicht aufhörte. Dann geht es rasend schnell: Operation, Chemotherapie. Von einer Freundin lässt sie sich die Haare abrasieren. Sie bindet sich ein Tuch um den Kopf und achtet darauf, dass niemand sie ohne das Tuch sieht. Auf die Hoffnung folgt der Rückschlag. Dann wieder Hoffnung und wieder Rückschlag. Esther weint und fragt sich, warum es sie getroffen hat. Dann fasst sie Mut, kämpft mit den Schmerzen und will nicht aufgeben.

Die Jahre vergehen und Esther beginnt zu planen. So ist sie auch. Akkurat. Genau. Eine, die gestern das Übermorgen geplant hat und das Frühstück schon am Abend rausstellt. Sie löst Konten auf, überträgt Versicherungen auf ihren Mann. „Wenn ich nicht mehr bin, pass gut auf meine Kinder auf“, sagt sie zu ihm. Im November 2014 liegt sie in ihrem Bett, ihr Mann an ihrer Seite, die Kinder ein Zimmer weiter. Sie atmet ein und wieder aus. Ganz sacht und friedlich.

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