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Nicol Ljubik, 45, ist Zagreb geboren und lebt in Berlin. Zuletzt erschien der Roman: „Als wäre es Liebe“ (Hoffmann und Campe).

© privat

Europa - mein scHmERZ: Nur wer die Freiheit nicht schätzt, kann Europa infrage stellen

Für den Schriftsteller Nicol Ljubić bedeutet Europa Freiheit. Sein Vater, der als Asylant herkam, genoss sie noch nicht. Seine Geschichte erinnert ihn daran, dass man für sie kämpfen muss.

Trst, 15 Kilometer, steht auf dem Schild. Wir tanken noch mal, machen kurz Rast, mein Vater reicht mir ein belegtes Brot. Dann rollen wir auf die slowenisch-italienische Grenze zu. Es ist der Übergang von einem EU-Staat in den nächsten. Europa hat sich verschoben. Damals, 1958, als mein Vater aus Jugoslawien flüchtete, war hier die Grenze zwischen zwei Welten, zwischen Sozialismus und Kapitalismus. Er war in Zagreb in den Zug gestiegen, mit nichts außer einer Tasche. Dann machte er sich im Dunkeln zu Fuß über die Grenze. Er beging Fahnenflucht, weil er noch keinen Militärdienst geleistet hatte. Mein Vater war 17, als er seine kroatische Familie verließ, um sein Glück in Westeuropa zu finden.

Sein Bruder hatte ihn vor der Grenze gewarnt. Die jugoslawischen Soldaten würden auf Flüchtende schießen. Die italienische Polizei würde sie in Auffanglager bringen und als Arbeitskräfte nach Australien verkaufen. Das ist, was mein Vater sich 50 Jahre lang gemerkt hat, weil er davor die größte Angst hatte, dass er in einem Schiff wochenlang eingepfercht nach Australien gebracht würde.

Dann, kurz vor Triest, die Grenze. Der slowenische Beamte winkt uns durch, ohne einen Blick in unsere Pässe zu werfen. Die italienische Seite ist verwaist. Die Reise ist einige Jahre her, als Europa seine Grenzen noch nicht aus Angst vor flüchtenden Menschen geschlossen hatte.

Wie man Freiheit leben sollte, sollte man Europa leben

Denke ich an Europa, muss ich zwangsläufig an die Geschichte meines Vaters denken und den Moment, als wir die Grenze passierten; wir fuhren von einem Land ins nächste mit einer Selbstverständlichkeit, als machten wir einen Ausflug ins Berliner Umland. Mein Vater hatte sich als junger Mann in Gefahr gebracht, um die Grenze zu überwinden, die 50 Jahre später keine mehr war. Wenn mich jemand fragt, was Europa für mich ist, dann genau das: Freiheit.

So, wie man Freiheit leben sollte, sollte man Europa leben. Deswegen ist Europa für mich, wenn ich in Split auf der Prokurative sitze und aufs Meer blicke. Wenn ich in San Sebastian in einer Bar am Tresen stehe und auf die Auswahl von Pinchos blicke. Wenn ich im Nachtzug nach Minsk liege und in Brest das Hämmern des Spurwechsels höre. Wenn ich im August in Sölvesborg im Meer vor Kälte erstarre, weil ein schwedischer Sommer eben kein griechischer Sommer ist. Wenn ich in Italien in eine Tomate beiße. Ich bin überzeugt davon, dass nur derjenige Europa infrage stellen kann, der die Freiheit nicht nutzt (oder schätzt), um Europa zu erleben.

Wie schnell Europa seine Grenzen schloss, ist erschreckend

Für ein Leben in dieser Freiheit musste mein Vater damals einen Fragebogen beantworten. Ankunftsdatum in Frankreich, mit oder ohne Erlaubnis: 7.IV.1959, ohne Erlaubnis. Warum möchten Sie nicht in Ihre Heimat zurückkehren? Aufgrund der jugoslawischen kommunistischen Politik.

Kurze Zeit später bekam mein Vater Asyl in Frankreich. Arbeitete auf einem Schrottplatz und in einer Schlachterei. Verliebte sich in eine deutsche Frau, ging nach Deutschland, wurde Vater, Deutscher, Flugzeugtechniker im Auslandsdienst der Lufthansa. Ich wuchs in Jugoslawien, Schweden, Griechenland, Russland und Deutschland auf, als Erster in der Familie studierte ich und bin mittlerweile selbst Vater zweier Söhne, die in Berlin geboren wurden und Ljubić heißen, weil ich wollte, dass der Name sie an die Geschichte ihres Großvaters erinnert.

Eine Geschichte, die für mich Europa ausmacht, weil sie von Grenzen handelt und einem Leben in Freiheit, von Flucht und Zuflucht. Ich erschrecke darüber, wie schnell man in Europa bereit war, wieder Grenzen zu schließen und Zäune zu bauen und sich vom anderen ab- und sich selbst zuzuwenden. Es scheint so, als würde die Freiheit, für die mein Vater seine Familie verlassen hat und die für mich selbstverständlich wurde, wieder ein Wert, für den wir kämpfen müssen. Ein Ouzo auf Mykonos kann da durchaus helfen.

Nicol Ljubić

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