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Berlin: Eva Zimmermann (Geb. 1929)

Warum flüstern die Leute, wenn sie in der Nähe ist?

Es war zu viel. Michael, 50, setzte sich nach diesem Satz, den sie ihm an den Kopf geworfen hatte, hin und schrieb Eva, seiner Mutter, 75, einen Brief. „Seit 30 Jahren kann ich nicht richtig schlafen“, hatte sie zu ihm gesagt, „und schuld daran bist du, weil du dein Leben nicht so geführt hast, wie ich es mir vorgestellt habe.“

Drei Wochen, nachdem er den Brief losgeschickt hatte, rief sein Stiefvater an, außer sich. Michael schlug ein Treffen vor, nicht in den vier Wänden der Schöneberger Wohnung, sondern draußen, im Senziger Wochenendhaus, wo die Nachbarn rechts und links in ihren Gartenstühlen saßen. Sie trafen sich, Mutter, Sohn und Stiefvater, der sofort zu reden begann. Er redete zweieinhalb Stunden auf seinen Stiefsohn ein, wurde laut, rief, nichts von dem, was Michael da aufgeschrieben habe, sei wahr. Und plötzlich sagte die Mutter: „Damals, 1945, bin ich von russischen Soldaten vergewaltigt worden.“

Eva Zimmermann kommt in Schöneberg zur Welt, geht dort acht Jahre zur Schule, zieht mit ihren Eltern nach Johannisthal, fängt eine Friseurlehre an, läuft jeden Tag von der Johannisthaler Wohnung zum Schöneberger Frisiersalon, kriecht in die Luftschutzkeller, während das Munitionslager am Segelfliegerdamm in die Luft fliegt, kriecht, körperlich noch unversehrt, heraus, ohne den blassesten Schimmer davon, wozu Männer, auch Befreier, in der Lage sind.

Eva ist eine schöne Frau, blond, gelockt, mit einer „Hollywoodfigur“, wie ihr Sohn sagt. Sie lernt einen Mann kennen, einen Arzt, ist kurz mit ihm zusammen, bis er mit einer anderen durchbrennt. Sie arbeitet im Frisiersalon auf dem Gelände der Defa-Filmstudios, wo sie sich neu verliebt, in den Chefkameramann. Sie heiraten, sie bekommen Michael. Aber warum flüstern die Leute, wenn Eva in der Nähe ist? Irgendwann flüstert irgendjemand nicht mehr leise genug. Sie hört diesen Satz: Der Hans hat ein Verhältnis. Sie kauft sich eine Fahrkarte nach Rostock, wo ihr Mann gerade dreht. Sie tritt vor ihn, er schaut sie an, und Eva weiß, dass die Leute recht hatten. Er versucht, sie zu umarmen, sagt: „Mach bitte keine Szene vor den Kollegen.“ Sie macht keine Szene, sie fährt zurück nach Berlin und glaubt, es könne noch alles gut werden. Fünf Monate später lässt sie sich scheiden.

Betrogen, geschieden, alleinerziehend, in den fünfziger Jahren schütteln die Leute über so etwas tadelnd die Köpfe. Eva sieht die Blicke und spürt den Makel. Sie zieht nach Oberschöneweide. Sie arbeitet im Frisiersalon auf dem Gelände des Rundfunks der DDR, legt den Damen Dauerwellen, schüttet ihnen Wasserstoffperoxid in die Haare und schwatzt über ihren Kummer hinweg.

Während einer Weihnachtsfeier wird ihr ein Mann vorgestellt. Er weicht nicht von ihrer Seite, er will sofort mit ihr zusammenleben, sofort heiraten. Eva ist unsicher, einerseits. Andererseits, denkt sie, hören endlich die Blicke der Leute auf. Sie gibt nach, Stück für Stück, sie zieht zu ihm, sieben Jahre später heiratet sie ihn.

Mit dem neuen Mann, Horst Zimmermann, ändert sich die Stimmung. „Du bist doch nur eine Friseuse“, sagt er, der Autoschlosser, der spät noch einmal studiert hat. Eva nickt. Das tut sie auch, wenn der neue Vater die Erziehung ihres Sohnes übernimmt. „Wenn deine Haare zu lang werden, schneid ich sie dir im Schlaf ab.“ Oder: „Du lernst kein Instrument, du gehst schwimmen.“ Eva und ihr Mann bilden bald eine „Einheitsfront“, so Michaels Ausdruck: ein Standpunkt, ein Tonfall. Jeder Schritt wird kontrolliert und beurteilt. Wenn es so etwas wie Herzlichkeit gibt, dann ist sie verkrampft. Michael wundert sich, seine Großeltern, Evas Eltern, waren liebevolle, warme Menschen. Er fühlt sich unbeschützt von seiner Mutter. Nie kommt sie zu den Schwimmwettkämpfen. Alles, was ihr nicht passt, beäugt sie argwöhnisch. Michael beginnt, sich aufzulehnen. Er lernt Kontrabass und Gitarre, er spielt in Bands. Als sich erste Erfolge einstellen und er im Fernsehen auftreten darf, ist sie sogar ein bisschen stolz. Theater gibt es trotzdem. Die Dialoge zwischen beiden verlaufen immer gleich. Er beginnt einen Satz, sie unterbricht ihn und erzählt irgendetwas über die Nachbarin. Sie schwärmt von ihrer Schwägerin, mit der er nicht mehr zusammenlebt, der „Frau Doktor, aus der was geworden ist“. Und eines Tages sagt sie diesen Satz: „Seit 30 Jahren kann ich nicht mehr schlafen, und schuld daran bist du.“

Der Stiefvater war mit seinen Beschuldigungen im Senziger Garten zum Ende gekommen. Er hatte alles gesagt, jetzt wollte er Abendbrot essen. Michael wollte nicht. Ein wenig nur sollten sie ihm entgegenkommen, nicht ihr ganzes Leben infrage und auf den Prüfstand stellen. Er ging. Und sah seine Mutter nicht wieder.

Zehn Jahre später, im Winter 2013, erfuhr er, dass sie gestorben war. Tatjana Wulfert

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